So verletzlich

Wolfgang Krinninger am 13.10.2021

Bike Wolfgang Krinninger

Das Saisonende naht. Die Tage werden kürzer, die Sonne wird schwächer, die Straße schmieriger. Vielleicht noch drei, vier Ausfahrten, dann werde ich mein Motorrad einmotten. Zuvor werde ich es noch einmal volltanken und gründlich waschen, die Batterie aufladen und mir Gedanken machen, was ich vielleicht in den langen Wintermonaten dran umbaue.

Seit mitt­ler­wei­le 40 Jah­ren gehört das zu mei­nen Ritua­len im Jah­res­kreis. Und doch ist heu­er etwas anders. Ich wuss­te in den ver­gan­ge­nen Jah­ren immer, dass einer mei­ner bes­ten Freun­de die­ses Ritu­al mit mir teilt. Bei­de haben wir bereits als 16-jäh­ri­ge Moped-rocker erkannt, dass zur Frei­heit unbe­dingt zwei Räder und ein Motor dazwi­schen gehö­ren. Wir schraub­ten tage- und näch­te­lang an unse­ren meist alten Maschi­nen, bib­ber­ten, wenn im strö­men­den Regen wie­der ein­mal eines der Motor­rä­der streik­te, erkun­de­ten Deutsch­land und die Nach­bar­län­der – mit Schlaf­sack und Zelt auf dem Gepäck­trä­ger – und mal­ten sie uns aus, die Fahrt bis ans Ende der Welt und wei­ter. Abends am Lager­feu­er, wo wir Gese­he­nes und Gefühl­tes, Erfah­re­nes und Erträum­tes teil­ten. Das Motor­rad war viel mehr als Fort­be­we­gungs­mit­tel. Es war Lebenselixier. 

Und jetzt hört der ein­fach auf. Mein Freund hat­te vor kur­zem einen Unfall mit dem Motor­rad. Er kol­li­dier­te mit einem Auto, stürz­te, brach sich Rip­pen und Mit­tel­hand­kno­chen. Ver­let­zun­gen, die sehr weh­tun, aber die wie­der hei­len. Wie heißt es in sol­chen Fäl­len: Es hät­te viel schlim­mer kom­men kön­nen. Und doch fass­te er schon nach weni­gen Tagen den Ent­schluss: Das war es jetzt! Denn was mei­nen Freund bestürzt: Trotz all sei­ner Erfah­rung hat er einen Feh­ler gemacht, den er sich nicht erklä­ren, den er nicht nach­voll­zie­hen kann. Er hat den Unfall selbst ver­schul­det und ist froh, dass nie­mand ande­res zu Scha­den kam. Nie wie­der möch­te er so ver­letzt, nach Atem rin­gend und völ­lig rat­los auf der Stra­ße sit­zen und auf den Ret­tungs­dienst war­ten müs­sen. Völ­lig ver­ständ­lich. Aber es nimmt mich mit. 

Motor­rad­fah­rer sind ver­letz­lich. Das macht einen Teil des Rei­zes aus. Ohne schüt­zen­de Hül­le sind sie mit allen Sin­nen mit­ten­drin. Jeder Blick, jede Bewe­gung wird mühe­los in Wir­kung umge­setzt. Im schöns­ten Fall ver­schmel­zen Mensch und Maschi­ne zu einer Ein­heit, die schon eine klei­ne Aus­fahrt zum inten­si­ven Erleb­nis wer­den lässt. Dage­gen ist Auto­fah­ren wie Fernsehen. 

Und jetzt hört der ein­fach auf. Es dau­ert eini­ge Tage, bis ich sel­ber das Gara­gen­tor wie­der auf­sper­re, den Helm auf­set­ze, die Maschi­ne mit einem Knopf­druck zum Leben erwe­cke und ein­tau­che in die Licht­spie­le des Herbs­tes. Mit­ten hin­ein, Kur­ve für Kur­ve, ohne Angst. Das Ver­trau­en ist noch da, auf mich, mein Motor­rad und mei­nen Schutzengel. 

Aber dass ich nun allein bin bei die­sem Ritu­al, wenn ich im Spät­herbst mein Motor­rad in die Gara­ge schie­be und noch ein­mal den Tank tätsch­le, dar­an muss ich mich erst gewöhnen.

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Wolfgang Krinninger

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