Dieses Jahr hat es die Zeit besonders eilig; fast die Hälfte des Jahres ist schon dahingeflossen. War nicht gerade erst noch Weihnachten und ein paar Tage danach das Osterfest? Irgendwie haben sich die Momente verflüchtigt, ohne dass ich sie recht greifen konnte. Merken Sie das? Die Zeit läuft uns davon …
Ein paar Jährchen mehr hätte ich gerne. Das Leben ist einfach zu kurz. Das gilt umso mehr, da wir Menschen heutzutage ja nicht nur das reale, sondern auch noch das virtuelle Leben meistern müssen. Wie soll das denn bitte zu schaffen sein in so kurzer Zeit?
Als ich letztens mal wieder durchs Internet gehetzt bin, da bin ich über den Weltschildkrötentag am 23. Mai gestolpert. Seit rund 220 Millionen Jahren promenieren die Wüsten‑, Schlangenhals‑, Leder- und Meeresschildkröten über unseren Planeten und nur wenig scheint sie aus der Ruhe zu bringen. Beeindruckend! Und sehr alt können sie werden, diese angenehm stillen Zeitgenossen. Auf 256 Jahre brachte es das „einzigartige“ Aldabra-Riesenschildkrötenmännchen „Adwaita“ im Zoologischen Garten Alipur in Indien. So alt würde ich eigentlich auch gerne werden, wenn auch eher ungern in einem Zoo …
Doch offenbar sind die wechselwarmen Reptilien mit ihren 360 Arten mit über 200 Unterarten vom Aussterben bedroht. Und daher der Weltschildkrötentag, damit wir uns besser um sie kümmern. Das wäre auch sehr ratsam, denn diese Tiere sind phänomenal. Wie Astronomen und Mythologen vermuten, schwimmt seit dem Urknall die Schildkröte Kurma mit unserer Welt auf dem Rücken durch das All. Dank der „Unendlichen Geschichte“ wissen wir, dass die uralte Schildkröte Morla in den Sümpfen der Traurigkeit in Phantasien deshalb so weise ist, weil ihre Gedanken über Jahrtausende gereift sind. Und dann ist da ja noch Meister Horas Schildkröte Kassiopeia, die eine halbe Stunde in die Zukunft schauen kann und das Mädchen „Momo“ vor den „grauen Herren“ gerettet hat.
„Egal wie toll die Realität ist, die Vorstellung, die man sich von etwas macht, ist nicht zu übertreffen. Denn in der Vorstellung bin ich grenzenlos, nicht limitiert, in der Wirklichkeit aber schon. Deswegen ist Fantasie eine so starke Macht.”
Schildkröten stehen symbolisch für Weisheit und Harmonie, für Langlebigkeit und Geduld, und dank ihres Panzers für Schutz. Und auch wenn die Tiere in der Bibel nicht direkt erwähnt werden, so sind ihre Beharrlichkeit und Ausdauer auch für uns nachahmenswerte Tugenden: „Lasst uns mit Ausdauer in dem Wettkampf laufen, der vor uns liegt, und dabei auf Jesus blicken, den Urheber und Vollender des Glaubens“ (Hebr 12,1−2). Oder: „Die Geduld aber soll zu einem vollkommenen Werk führen, damit ihr vollkommen und untadelig seid und es euch an nichts fehlt“ (Jak 1,4).
Das sind zweifellos hilfreiche Ratschläge in einer Zeit, in der wir durchs Jahr hetzen und dabei so Vieles verpassen. Um die wesentlichen Momente einzufangen, hilft es vielleicht, wenn wir mal langsamer machen, regelmäßig innehalten, ruhen, uns „von der Muße küssen lassen“. Der Kabarettist Gerhard Polt hat dafür einen eigenen Ausdruck geprägt: „Herumschildkröteln“.

Michael Glaß
Redakteur