Vom Trost der Poesie

Redaktion am 23.08.2023

2023 08 23 pb alb poesie Foto: Karolina Grabowska/ Pexels

Editorial der aktuellen Ausgabe: Zum 90. Geburtstag des Lyrikers Reiner Kunze

Es gibt Tage, die sich tief in die Erin­ne­rung ein­prä­gen, weil sie so inten­siv sind. Für mich ist der 9. Novem­ber 2016 so ein Tag. Am Mor­gen der blan­ke Hor­ror in den Nach­rich­ten: Donald Trump hat­te es mit sei­ner Kam­pa­gne aus Lügen und Hass tat­säch­lich geschafft: Er war in der Nacht als Sie­ger der US-Prä­si­dent­schafts­wah­len aus­ge­ru­fen wor­den. Für jeden demo­kra­tisch den­ken­den Men­schen ein Schre­ckens­sze­na­rio. Und den­noch wur­de der 9. Novem­ber 2016 noch zum Glückstag für mich.

2023 08 23 pb alb reiner kunze Foto: wikimedia
Elisabeth und Reiner Kunze besuchen im Mai 2017 die Raumarbeit "Poesie der Energie" des Künstlers Frank Maibier in Oelsnitz/Erzgeb.

Der Grund dafür hieß Rei­ner Kun­ze. Der Lyri­ker, der ver­folgt und gedemütigt 1977 die DDR ver­las­sen muss­te und in Erlau im Donau­tal eine neue Hei­mat fand, war Ehren­gast bei einer Tagung von Redak­teu­ren der deut­schen Bis­tums­zei­tun­gen bei uns in Pas­sau. Es war mucks­mäus­chen­still im Raum, als er ans Red­ner­pult trat. Der damals 83-Jäh­ri­ge sprach frei, rezi­tier­te aus der Erin­ne­rung Gedicht­zei­len und gan­ze Absät­ze von Phi­lo­so­phen und Schrift­stel­lern und ließ uns so teil­ha­ben am Kos­mos sei­nes Den­kens. Ihm gegenüber saß sei­ne Frau Dr. Eli­sa­beth Kun­ze. Oft lächelnd, immer in Blick­kon­takt mit ihrem Mann. Sie ergänz­te das Gesag­te aus ihrer Erin­ne­rung. Gedul­dig beant­wor­te­te der Lyri­ker im Anschluss unse­re Fra­gen. Ja, erklär­te er dabei, natürlich habe er in sei­nem Leben auch vie­le Feh­ler gemacht. Doch nie­mals hät­te er eine Sil­be eines Gedichts geän­dert, um nicht anzu­ecken, um leich­ter durchs Leben zu kom­men. Denn dann wäre alle Dich­tung umsonst gewe­sen. Das Ehe­paar Kun­ze bescher­te uns Jour­na­lis­ten zwei Stern­stun­den. Auf­recht, wei­se, mutig, vol­ler Liebe.

Der stil­le Deut­sche“, wie der His­to­ri­ker Micha­el Wolff­sohn den Dich­ter Kun­ze ein­mal bezeich­ne­te, zieht die Men­schen in sei­nen Bann: durch sei­ne Aus­strah­lung, sei­ne bedacht­sa­me Wort­wahl, sei­ne Zuge­wandt­heit. Ein befreun­de­ter Leh­rer erzähl­te mir kürzlich, dass er Rei­ner Kun­ze nie ver­ges­sen wer­de, dass er ihm sehr schnell auf einen Brief geant­wor­tet habe.

Der Schrift­stel­ler war damals län­ge­re Zeit in Nami­bia unter­wegs. Mein Freund bat ihn, den Schülerinnen und Schülern sei­ner Klas­se zu schrei­ben, was sie von Jugend­li­chen in Afri­ka ler­nen könn­ten. Kun­zes Ant­wort: Dass die Men­schen, egal, wo sie leben, es immer nah zuein­an­der haben sollen!“

Am ver­gan­ge­nen Mitt­woch gra­tu­lier­te u.a. Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­mei­er Rei­ner Kun­ze zum 90. Geburts­tag. Sie wuss­ten, was auch Ihre Geg­ner wuss­ten, näm­lich wie bri­sant Wor­te sein kön­nen, wenn sie inmit­ten von Pro­pa­gan­da und Lügen die Wahr­heit sagen“, würdigte der Bun­des­prä­si­dent den Schrift­stel­ler. Stein­mei­er zitier­te in sei­nem Text auch einen Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler, der Kun­ze als Poe­ten des Tros­tes und des Glücks‘ bezeich­net hat­te, der selbst den unheil­vol­len Momen­ten des Lebens einen Schim­mer der Hoff­nung abzu­ge­win­nen mag‘. Wie sehr sind wir gera­de heu­te auf die Wort­schät­ze des gro­ßen Dich­ters angewiesen.

Wolfgang krinninger

Wolfgang Krinninger

Chefredakteur

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