Nur zwei Zentimeter mehr. Die reichten Klaus Wolfermann zum Sieg. Bei den Olympischen Spielen 1972 in München bezwang der Speerwerfer den aus Lettland stammenden, haushohen Favoriten, durfte mit der Goldmedaille nach Hause gehen und schrieb Sportgeschichte. Ein Bistumsblatt-Gespräch über den schönsten Moment im Leben eines Athleten und die Frage, warum die Deutschen sich zwar gerne Olympische Spiele im Fernsehen anschauen, aber dieses Großereignis im eigenen Land nicht (mehr) haben wollen.
3. September 1972: Klaus Wolfermann wirft den Speer 90,48 Meter weit. Den allerletzten Versuch aber hat Janis Lusis, der für die damalige Sowjetunion antritt. Als die Anzeigetafel im Stadion 90,46 Meter anzeigt, stockt Zuschauern wie Athleten der Atem, dann unbeschreiblicher Jubel. Ein Bayer aus der Pfarrei Burgkirchen an der Alz ist im Olymp angekommen: Gold.
50 Jahre später erzählt Klaus Wolfermann im Gespräch mit dem Passauer Bistumsblatt: „Mir wurde ganz anders. Urplötzlich war ich nicht mehr einer der Dritten, sondern ich stand ganz oben auf dem Siegertreppchen, die Nationalhymne erklang. Mir rieselte ein Schauer über den Rücken. Selbst heute noch, wenn ich über diesen Moment spreche und Bilder von damals sehe, schüttelt es mich ein bisschen.“
Für Klaus Wolfermann wäre es schon eine Sensation gewesen, wenn er Bronze gewonnen hätte – aber Gold! Janis Lusis gilt in dieser Sportart zu diesem Zeitpunkt einfach als der Unerreichbare; er ist der klare Favorit. Der Oberbayer nimmt sein metallenes Wurfgerät – 2,60 Meter lang, 800 Gramm schwer. „Fünfter Versuch habe ich gesagt, so, jetzt hau ich alles rein, Anlauf verlängern, schneller einlaufen, und vorne, wie man so schön sagt im Speerwerfen, einfach draufhauen.“ Was sich in der Theorie soooooooooooo einfach anhört, ist in der Praxis unglaublich schwer. Ungezählte Trainingsstunden – um am Tag X den einstudierten Ablauf mit der Präzision einer Schweizer Uhr abzurufen. Es gelingt. Ein Wumms! 90,48 Meter.
Aber Janis Lusis ist noch dran. Und der letzte Versuch ist in der Regel die Spezialiät des Letten. Das große Zittern beginnt. Am Ende wird es knapp, sehr knapp sogar. Der Unbezwingbare aus dem Baltikum ist geschlagen, das Kapitel um den größten Zweikampf der Speerwurfgeschichte geschrieben. Für Klaus Wolfermann wird ein olympischer Traum wahr und er zeigt Sportsgeist. Da der Konkurrent aus Lettland für ihn eine Respektperson ist, entschuldigt sich Wolfermann bei diesem zunächst für den Sieg. Aber auch Janis Lusis ist ganz Sportsmann und nimmt die Niederlage gelassen.
Aus den sportlichen Gegnern wurden Freunde fürs Leben. Selbst als der Eiserne Vorhang noch Ost und West trennte, riss die Verbindung nie ab. Die Familien besuchten sich gegenseitig. Einmal kam Janis Lusis nach Oberbayern – gemeinsam mit Klaus Wolfermann gingen sie zum Angeln an den Wöhrsee in Burghausen.
In München wurde die digitale Weitenmessung eingeführt. Deswegen wollen bei Wolfermann auch nach 50 Jahren keine Triumphgefühle über seinen mittlerweile verstorbenen Freund aufkommen. Bescheiden sinniert er: „Hätte man, wenn man sich vorstellt, wie vorher, mit dem Maßband gemessen – Maulwurfshügel, Unebenheiten – es wäre vielleicht anders gekommen …“
Ein Jahr später warf Klaus Wolfermann Weltrekord: 94,08 Meter. Beides, Olympiasieg und Weltrekord, wurde beim „2. Internationalen Volksmarsch“ in Rotthalmünster im Jahr 1974 gebührend gewürdigt: Jeder Wanderer durfte sich eine Medaille mit nach Hause nehmen, auf der Klaus Wolfermann genau in dem Moment zu sehen ist, als er einen Speer auf die Reise schickt.
Der Jahrhundertsportler ist seiner Leidenschaft treu geblieben. Jeden Tag trainiert er eine Stunde im Fitnessraum. Mittlerweile lebt der 76-Jährige in Penzberg, einem Städtchen zwischen Starnberger See und dem Fuß der bayerischen Alpen. Dass es mit dem Nachwuchs hapert, tut ihm in der Seele weh. Zwei Gründe macht er dafür aus: Zum einen werde, so der studierte Sportlehrer, an bayerischen Schulen der Sportunterricht mehr und mehr gekürzt. Und zum anderen sei der „innerbetriebliche Bürokratismus in so manchen Sportverbänden“ oft ein Hemmschuh. Kein Blatt vor den Mund nimmt er, wenn es um das Internationale Olympische Komitee (IOC) geht. Hier plädiert er für mehr Einfachheit. Nur dann hätte die Olympische Idee eine Zukunft. „Geld scheffeln und Gigantismus auf Kosten der Natur sind nicht mehr passend für unsere Welt.“
Und was ihn nicht loslässt: Der palästinensische Terroranschlag auf die israelische Mannschaft 1972 in München. Klaus Wolfermann: „Damit wurden den bunten Spielen die Farben genommen. Der Tod so vieler Menschen hat mich mitgenommen. Das ging mir unter die Haut. Ich weiß nicht, ob ich zu meiner Höchstleistung im Stande gewesen wäre, wenn mein Wettkampf in den Tagen nach dem Attentat stattgefunden hätte …“
„Der liebe Gott hat mir einen unheimlichen Ehrgeiz gegeben“: Zielstrebig ist Klaus Wolfermann noch heute – und wie! Seinen sportlichen Erfolg nutzt er für den guten Zweck. Gemeinsam mit seiner Frau Friederike veranstaltet er Sportevents, um Kindern (und deren Familien) zu helfen, die eine Organspende brauchen. Das mit dem „Hauch von Unsterblichkeit“ bezieht sich auch auf das Leben jenseits olympischen Lorbeers: „Mir ist bewusst, dass ich am Ende meines eigenen Lebens ein anderes retten kann. Deswegen bin ich Organspender!“