Wallfahrt

Wenn das Pilgern zum Lifestyle verkommt

Redaktion am 17.01.2023

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Der spanische Jakobsweg setzt seine Erfolgsgeschichte fort und ist im vergangenen Jahr mit einer Rekordzahl an Pilgern in neue Dimensionen vorgestoßen. Allerdings sind davon nicht alle gleichermaßen begeistert.

Genau 438.323 Pil­ger durf­ten sich im Lau­fe des ver­gan­ge­nen Jah­res im Pil­ger­bü­ro von Sant­ia­go de Com­pos­te­la ihre Pil­ger­ur­kun­de abho­len. Vor­aus­ge­setzt, sie konn­ten mit der Stem­pel­fol­ge im Pil­ger­aus­weis bele­gen, min­des­tens die fina­len 100 Kilo­me­ter bis zur Apos­tel­stadt zu Fuß bezie­hungs­wei­se die letz­ten 200 Kilo­me­ter mit dem Rad zurück­ge­legt zu haben. Nie­mals sind nach­weis­lich mehr Ankömm­lin­ge ver­zeich­net wor­den; der bis­he­ri­ge Rekord von 2019 (347.578) wur­de um Län­gen übertroffen.

Für einen Exper­ten wie Hei­no von Groo­te, den Vor­sit­zen­den des Pader­bor­ner Freun­des­krei­ses der Jako­bus­pil­ger, war das Rekord­jahr kei­ne Über­ra­schung. Aber es fand mei­nes Erach­tens über­wie­gend auf den letz­ten 100 Kilo­me­tern des Weges statt“, räumt er ein. Gene­rell schei­nen sich mehr und mehr die Ver­hält­nis­se zu ver­schie­ben: weg vom Grund­ge­dan­ken des Glau­bens hin zum Life­style-Pil­gern. Unter den Euro­pä­ern ist der Trend sicher da, dass man mal in Sant­ia­go gewe­sen sein muss“, hat von Groo­te aus­ge­macht, wobei er kei­ne Ein­schät­zung für Nicht­eu­ro­pä­er wie die zuneh­men­de Zahl an Süd­ko­rea­nern tref­fen will. 

Hier ist es fast so geil wie am Bal­ler­mann. Nur der Strand und das Meer feh­len“, zitier­te die Deut­sche Pres­se-Agen­tur in einem Bericht einen 21-jäh­ri­gen Pil­ger aus Ham­burg, der sich in Sant­ia­go de Com­pos­te­la gera­de den Trink­freu­den hin­gab. Doch das geht ver­ein­zelt auch andern­orts. In Fon­ce­ba­dón, dem letz­ten Pil­ger­dorf vor dem Eisen­kreuz, dem höchs­ten Punkt des Jakobs­wegs, drin­gen aus einer Knei­pe pop­pi­ge Klän­ge und rau­ben dem Jakobs­weg die Stil­le. Ein Wer­be­schild preist einen Moji­to-Cock­tail für fünf Euro an, ein ande­res die Hap­py Hour“ mit preis­re­du­zier­ten Drinks. Drau­ßen sit­zen jun­ge Pil­ger zusam­men und geneh­mi­gen sich einen Trop­fen. Die Füße wip­pen im Takt.

Party-Pilger: Ob am Ziel in Santiago de Compostela oder in so manchem Ort an der Route werben Tavernen mit Cocktails, „Happy Hour“ und poppiger Musik um Gäste und rauben dem Jakobsweg so die Stille. Anwohner und Sinnsucher sind davon zunehmend genervt.
Party-Pilger: Ob am Ziel in Santiago de Compostela oder in so manchem Ort an der Route werben Tavernen mit Cocktails, „Happy Hour“ und poppiger Musik um Gäste und rauben dem Jakobsweg so die Stille.

In Sant­ia­go de Com­pos­te­la häu­fen sich die Anwoh­ner­be­schwer­den über jene, die zur frü­hes­ten Mor­gen­stun­de jubi­lie­rend und ohne Rück­sicht auf Lärm­be­läs­ti­gung in die Alt­stadt ein­zie­hen – und ihren Tri­umph der Ankunft in die Nacht hin­ein aus­gie­big begie­ßen. Dabei han­delt es sich oft­mals um Urkun­den­jä­ger“, deren Fuß­pil­ger­schaft sich ledig­lich auf die letz­ten 100 Kilo­me­ter beschränkt, wie von Hei­no von Groo­te rich­tig ausgemacht.

In die sozia­len Medi­en haben Anwoh­ner Vide­os von grö­len­den Pil­ger­mas­sen gestellt, Zei­tun­gen und Fern­seh­sen­der über die Pro­ble­ma­tik der Über­flu­tung berich­tet. Die ver­trei­ben uns aus unse­rer Stadt“, ließ ein Anwoh­ner sei­nem Frust im Som­mer frei­en Lauf.

Juli und August waren ein­mal mehr die stärks­ten Mona­te; im Juli tra­fen 67.374, im August 85.842 Pil­ger in Sant­ia­go de Com­pos­te­la ein, im Schnitt also 2500 Men­schen pro Tag. Dazu gesell­ten sich die nor­ma­len Besu­cher, übers gan­ze Jahr ver­teilt meh­re­re Mil­lio­nen. Logisch also, dass die Stadt, die nur 100.000 Ein­woh­ner zählt, an die Gren­ze ihrer Kapa­zi­tä­ten stößt.

Was bei einer detail­lier­te­ren Betrach­tung der Pil­ger­sta­tis­tik eben­falls auf­fällt: Die Frau­en waren in den wich­tigs­ten Mona­ten zwi­schen Mai und Okto­ber in der Mehr­zahl. Der Jakobs­weg gilt als siche­re Rou­te. Der Raub­mord an einer Pil­ge­rin vor Jah­ren bei Ast­or­ga war eine tra­gi­sche Ausnahme. 

Der Anteil der Rad­pil­ger­schaf­ten hat im Rekord­jahr bei etwa fünf Pro­zent gele­gen, doch da gibt es ein unge­klär­tes Pro­blem: Haben auch E‑Biker ein Recht auf die Pil­ger­ur­kun­de? Eigent­lich nicht. Die bekommt man eigent­lich nur mit einem nor­ma­len Fahr­rad“, lau­tet die Aus­kunft beim Anruf im Pil­ger­bü­ro. Doch in der Pra­xis wird das gewöhn­lich nicht kontrolliert. 

Im Anreiz der Fuß­pil­ger­ur­kun­de für die letz­ten 100 Kilo­me­ter sieht José Miguel Rey Beau­mont, der Vor­sit­zen­de der Jakobs­weg­freun­de der spa­ni­schen Regi­on Navar­ra, ein haus­ge­mach­tes Pro­blem, das den Bestim­mun­gen des Kle­rus von Sant­ia­go de Com­pos­te­la geschul­det ist. Turig­ri­nos“ nennt er auf Spa­nisch die Life­style-Pil­ger, ein Wort­mix aus Turis­tas“ (deutsch: Tou­ris­ten) und Pere­gri­nos“ (Pil­gern). Tou­ris­ten­pil­ger“ also – und dies in stei­gen­der Zahl. Man­che kom­men sogar mit Kof­fern und beauf­tra­gen einen orga­ni­sier­ten Gepäck­trans­port von Unter­kunft zu Unter­kunft“, weiß Rey Beau­mont. Die Nach­fra­ge beim füh­ren­den spa­ni­schen Gepäck­trans­port­un­ter­neh­men Jaco­trans“ ist auf­schluss­reich. Trans­por­teur José Luis Par­do hat im abge­lau­fe­nen Rekord­jahr kei­ne explo­die­ren­de“ Nach­fra­ge aus­ge­macht und sagt, die Zah­len hät­ten sich im Ver­gleich zur Vor-Coro­na-Zeit ledig­lich leicht gestei­gert. Aber mehr geht nicht. Unse­re Anlie­fe­run­gen sind mit Unter­künf­ten ver­bun­den – und die sind alle voll“, schließt er ein Stei­ge­rungs­po­ten­zi­al aus.

Einsame Wege in grandioser Natur: Wie hier auf der steinigen Passage beim Abstieg vom Eisenkreuz (Cruz de Ferro) stellen sich wohl die meisten den Jakobsweg vor. Doch immer mehr „Trophäensammler“ sorgen dafür, dass vor allem die letzten 100 Kilometer stark überlaufen sind.

Rey Beau­mont plä­diert dafür, die Vor­aus­set­zun­gen für den Erhalt der Pil­ger­ur­kun­de zu ändern: nicht mehr ledig­lich die letz­ten 100 Kilo­me­ter zu Fuß, son­dern den kom­plet­ten Jakobs­weg durch Nord­spa­ni­en, knapp 800 Kilo­me­ter von den Pyre­nä­en bis Sant­ia­go de Com­pos­te­la. Ihn stört, dass die zwi­schen­drin gele­ge­nen Groß­re­gio­nen Navar­ra, La Rio­ja und Kas­ti­li­en-León kaum etwas vom gro­ßen Pil­ger­ku­chen abbe­kom­men. Dort sei von dem, was er tref­fend Mas­sen­be­we­gung der Pil­ger“ nennt, wenig zu spü­ren. In den drei genann­ten Regio­nen sei­en die Zah­len des Zulaufs in die­sem Rekord­jahr im Ver­gleich zu den nor­ma­len Zei­ten vor der Coro­na-Kri­se sogar gesun­ken. Alles kon­zen­trie­re sich auf den letz­ten Abschnitt in der Regi­on Gali­ci­en, deren Haupt­stadt Sant­ia­go de Com­pos­te­la ist. 

Das bedeu­tet im Umkehr­schluss: Wer ruhi­ge­re Fleck­chen liebt und die wah­re Aura des Weges in sich auf­neh­men will, fin­det vor­her sei­ne Erfül­lung – wenn­gleich ohne Diplom. Für des­sen Erhalt braucht man für die letz­ten 100 Kilo­me­ter bis Sant­ia­go de Com­pos­te­la im Schnitt fünf Wan­der­ta­ge; Ein­stiegs­punkt ist das Städt­chen Sar­ria. Rey Beau­mont spart nicht an Kri­tik und zieht einen prä­gnan­ten Ver­gleich: Das ist so, wie eine Woche Feri­en zu ver­brin­gen, aber es hat nichts mit der Essenz des Jakobs­wegs zu tun und erreicht nie­mals des­sen urei­ge­ne Spi­ri­tua­li­tät.“ Er pran­gert die Bana­li­sie­rung“ der Pil­ger­er­fah­run­gen an.

Jakobsweg, es geht auch besinnlich: In der Marienkirche von Cacabelos liegt ein Stempel für die Pilgerausweise aus.

Was den christ­li­chen Ansatz der Wall­fahrt anbe­langt, gibt Hei­no von Groo­te zu beden­ken: Den Glau­bens­pil­ger des Mit­tel­al­ters gibt es ja sowie­so nicht mehr. Es gibt aber eine Men­ge von Men­schen, die mal schau­en wol­len, was auf dem Weg mit ihnen pas­siert. Und dabei sind sie auch offen für eine gewis­se reli­giö­se Erfah­rung. Die­se kann man aber sicher nur spü­ren, wenn man über­haupt eine Anten­ne dafür hat. Und die kommt lang­sam abhanden.“

Pil­gern, so von Groo­te, habe immer etwas mit Suchen und Hof­fen zu tun. Das wer­de nie­mals auf­hö­ren, egal, wie sich die Begleit­erschei­nun­gen ver­än­dern. Er hofft, dass sich Men­schen wei­ter auf den Weg machen, Gott­ver­trau­en ent­wi­ckeln und ihr Leben dadurch bes­ser meis­tern kön­nen. Aus­wüch­se der Par­ty-Kul­tur zie­hen hof­fent­lich mal wie­der an ande­re Orte“, so von Groote.

Text und Fotos: Andre­as Drouve

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