Walter Homolka ist einer der bekanntesten Rabbiner in Deutschland. Der Professor für Jüdische Religionsphilosophie ist unter anderem Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs, des ersten Rabbinerseminars in Deutschland seit der Schoah. Auf seinem Weg zum Glauben spielten auch zwei katholische Geistliche aus dem Bistum Passau eine wichtige Rolle.
Wie kam der junge Walter Homolka in Landau an der Isar mit dem jüdischen Glauben in Kontakt?
Homolka: Ich erinnere mich noch gern an den katholischen Stadtpfarrer in Landau zu meiner Jugendzeit: den späteren Passauer Domdekan Franz Seraph Gabriel. Er hat mich als Bub immer mal wieder ermuntert, über meine geistliche Berufung nachzudenken. Mit Erfolg. Auch wenn das Ergebnis anders als gemeint sein dürfte. Ende der 1970er Jahre habe ich als Gymnasiast in Landau von einem faszinierenden Religionslehrer sehr profitiert, dem 2019 verstorbenen Prälaten Helmuth Schuler. Wir nannten ihn nur den „Guru“. Er hat uns ermuntert, den Fragen des Lebens nachzuspüren: warum wir hier sind, was unsere Aufgabe im Leben ist, wohin wir gehen? Die Wahrheit war ihm wichtig. Dadurch hatte ich die geistige Freiheit, mich mit etwa zwölf Jahren in der Israelitischen Kultusgemeinde von Straubing zu engagieren. Nachdem ich mit sechzehn religiös mündig geworden war, bin ich formal eingetreten.
Was hat Sie daran so fasziniert, dass das Judentum zum Lebensinhalt wurde?
Homolka: Ich komme aus einem religiös wenig prägenden Elternhaus. Mein Vater Walter lernte meine Mutter bei einer Rede Kurt Schumachers vor Sozialdemokraten und Gewerkschaftlern in der Passauer Nibelungenhalle kennen. Meine Mutter Anny war eine ausgezeichnete Musikerin und Dirigentin. Von ihr habe ich meine Liebe zur Musik mitbekommen, eine starke Brücke zur Transzendenz. Am Judentum hat mich fasziniert, dass es hinter die Ursprünge des Christentums zurückgeht. Gott bleibt für den Menschen vollkommen unverfügbar, gleichzeitig gibt er uns Menschen durch die Offenbarung seiner Gebote den Schlüssel zur Bewährung in dieser Welt in die Hand. Zusätzlich haben mich persönliche Begegnungen sehr geprägt: mit dem aus München stammenden Religionsphilosophen Schalom Ben-Chorin blieb ich von meiner Jugend an bis zu seinem Tod befreundet; der aus Augsburg stammende Präsident der Zentralkonferenz amerikanischer Rabbiner Walter Jacob hat mich schon als Teenager gefördert, mich zum Rabbinerstudium ermuntert, 1997 selbst zum Rabbiner ordiniert. Er ist heute der geistige Vater des Abraham Geiger Kollegs für Rabbinerausbildung in Potsdam, dessen Rektor ich bin. Warum bin ich Jude? Weil es mir die Freiheit gibt, mich unter die Disziplin der Vernunft zu stellen. Denn in der Vernunft ist die wahre Freiheit begründet, und in Gottes Gesetz erfahren wir Seine wahre Liebe.
Was bedeutet Ihnen Ihr Glaube?
Homolka: Der hebräische Begriff für Glauben, emuna, hängt eng mit Treue, Zuverlässigkeit und Wahrheit zusammen; was zählt, ist vor allem das Tun, also die Ethik. Gottes Satzungen und Vorschriften geben jeder Jüdin und jedem Juden einen Rahmen für ihr Handeln. Die Gestalt dieser Gesetze ist Ertrag eines immerwährenden Diskurses, der Entscheidungen für neue Situationen in anderen Epochen hervorbringt und damit Wandel ermöglicht und Kontinuität greifbar macht. Der andauernde Prozess menschlicher Interpretation wird so zum stetigen Offenbarungsprozess, der weit über das einmalige Geschehen am Berg Sinai hinausgeht. Für mich ist gerade diese Wandelbarkeit der Schlüssel, dem Judentum treu zu bleiben.
Ein wesentlicher Aspekt, der die liberale Mehrheit des Judentums von der orthodoxen Minderheit trennt, ist der Offenbarungsbegriff. Für das liberale Judentum ist der Offenbarungsprozess nicht abgeschlossen, er schreitet voran, so wie sich der Wille Gottes fortwährend entfaltet. Dieser Offenbarungsbegriff ermöglicht eine Relativierung der schriftlichen Tora durch das Korrektiv der mündlichen Tora. Die unterschiedlichen Richtungen innerhalb des Judentums unterscheiden sich in der Intensität, mit der sie diesen interpretatorischen Eingriff für die Moderne zulassen; und das nun schon seit 250 Jahren.
Woran denken Sie, wenn Sie an Landau denken?
Homolka: Ich bin in Landau relativ behütet aufwachsen. An das Engagement meiner Eltern im öffentlichen Musikleben Landaus denke ich besonders gerne. Ich verdanke aber auch meinen Erziehern einiges. Schwester Englberta von den Maria Ward-Schwestern im Kindergarten zum Beispiel, Elfriede Golzinger in der Grundschule oder Klaus Eberl als Kollegstufenbetreuer. An viele meiner Lehrer erinnere ich mich namentlich – Elfriede Zurl, Albert Hartmann, Anne Wetzel, Ingeborg Helmreich – und bin ihnen dankbar, weil sie Persönlichkeiten gewesen sind, die Persönlichkeiten formen konnten. Das ist auch mein Ziel als Hochschullehrer.
Gibt es noch Anknüpfungspunkte nach Niederbayern?
Homolka: Ich besuche meine Heimatstadt regelmäßig, um die Gräber unserer Familie zu besuchen, und bin auch oft in Straubing, wo meine Schwester lebt.
Eines Ihrer Bücher aus dem Jahr 2020 trägt den Titel: Der Jude Jesus – Eine Heimholung. Wie sehen Juden Jesus heute?
Homolka: Zur Zeit Jesu gab es eine Vielfalt jüdischer Gruppierungen. In dieses bunte Meinungsspektrum muss man Jesus einordnen. Daher habe ich mein Buch auch Christian Stückl gewidmet. Er hat die Oberammergauer Passionsspiele, die im kommenden Jahr wieder aufgeführt werden, so umgestaltet, dass es nicht um eine Frontstellung „hier Jesus, da die Juden“ geht, sondern deutlich wird: es ist eine innerjüdische Debatte. Das ist entscheidend dafür, dass Juden heute sagen können, Jesus war einer von uns. Jesu Predigt und Argumentationsstil ist wesentlich rabbinisch. Wie Rabbi Hillel räumte Jesus der Nächstenliebe den gleichen Rang wie der Gottesfurcht ein und ordnete sie den anderen Torageboten über. Aus dem Pharisäismus ist später das rabbinische Judentum erwachsen. Daraus ergibt sich ein gewisses Naheverhältnis zwischen dem heutigen Judentum und dem authentischen Jesus.
Bietet die Tatsache, dass Jesus Jude war eine Möglichkeit, den jüdisch-christlichen Dialog weiter voranzubringen?
Homolka: Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ist die Heimholung Jesu in das Judentum ein zentrales Thema der jüdischen Jesusforschung. Jüdische Denker wie Jacob Emden oder Moses Mendelssohn haben erstmals das Jüdische der Lehre Jesu gewürdigt und positiv betont, dass Jesus diese Lehre universalisiert, also weit über das Judentum hinaus verbreitet habe. Das Ziel war, angesichts der Allianz von Thron und Altar im 19. Jahrhundert, für die Juden einen würdigen Platz in der christlich geprägten Gesellschaft zu erarbeiten.
Das Innerste des christlichen Glaubens müsste allerdings in Zukunft so beschrieben werden, dass es nicht das Judentum als den Gegner braucht, von dem man sich absetzen und abgrenzen will. Die Grundlage dafür ist, dass auch die römisch-katholische Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil anderen Religionen einen Eigenwert zuerkennt. Die Pluralität der Bekenntnisse in der heutigen Gesellschaft gibt allen mehr Raum zur Entfaltung, auch dem Judentum. Juden können damit leben, dass Gott sich auf verschiedenen Wegen offenbart. Es war eher das Problem der katholischen Kirche, dass sie das lange nicht zugestand.
Wo sehen Sie auf diesem Weg die größten Hindernisse und Herausforderungen?
Homolka: Wir blicken auf Jahrzehnte einer Entwicklung im Verhältnis von Judentum und katholischer Kirche, die von Annäherung und Erkenntnis der Übereinstimmung geprägt ist. Beide beten denselben Gott an. Beide stützen sich auf dasselbe Buch, die Hebräische Bibel. Beide erkennen die moralischen Prinzipien der Tora an und hegen eine gemeinsame Verantwortung für diese Welt als Gottes Schöpfung. Es hat also in weniger als fünfzig Jahren eine atemberaubende Veränderung gegeben. Ich meine aber: Die Kirche braucht eine Christologie, die Jesu Wirkungsgeschichte im Christentum feiert, ohne sie absolut zu setzen.
Im Buch „Umdenken“ von 2021 erklären Sie gemeinsam mit dem Islamgelehrten Mouhanad Khorchide, wie Islam und Judentum unsere Gesellschaft besser machen. Was verbindet die beiden Religionen?
Homolka: Judentum und Islam wissen sich einig in ihrem Gottesbild, ihrer Vorstellung von Offenbarung und Gottes Geboten. Gott ist für Juden wie Muslime ein rettender, beschützender, ein barmherziger Gott, der den Menschen ewige Treue und Liebe entgegenbringt. Muslime haben immer schon gewusst, dass hier derselbe Gott angesprochen wurde und wird. Im Islam wie im Judentum offenbart Gott seinen Willen in seinem Wort an die Menschen. Im Judentum wie im Islam ist der Mensch vor Gott für sein Tun verantwortlich, er hat den freien Willen, sich für das Gute zu entscheiden. Im Vordergrund stehen bei Judentum wie Islam das Leben mit Gott, das Studium seiner Schrift und die Einhaltung der Gebote Gottes.
Was ermutigt Sie zum Untertitel des Buches?
Homolka: In Westeuropa stellt sich die Frage nach einem neuen religiösen Pluralismus schon lange: seit die ‚Gastarbeiter‘ aus Südeuropa, der Türkei und Nordafrika eintrafen. Jetzt bietet sich die Chance, eine Antwort zu geben. Wir Europäer müssen aus unserer bisherigen Unfähigkeit, religiös pluralistischen Gesellschaften politisch Rechnung zu tragen, die richtigen Lehren ziehen. Die Lösung kann nicht mehr auf dem Modell eines homogenen säkularen Nationalstaats beruhen, wie es sich nach dem Westfälischen Frieden entwickelt hat. Sie wird auf einer neuen Form von postnationaler und postsäkularer Demokratie aufbauen müssen, damit allen Bürgern, säkularen wie religiösen, die gleichen Rechte und Freiheiten eingeräumt sind. Wir brauchen ein Modell für heterogene, pluralistische Gesellschaften, in denen sich alle Religionen – ob christlich, jüdisch, muslimisch oder andersgläubig – frei und gleichberechtigt zur Geltung bringen.
Was muss in Gesellschaft und Politik passieren, damit Juden sich sicher und gut aufgehoben in Deutschland fühlen?
Homolka: (…) Unser Bundespräsident hat es bei der Eröffnung unseres Europäischen Zentrums für jüdische Gelehrsamkeit gerade so formuliert: „Antisemitismus ist immer ein Seismograph dafür, wie es um unsere Demokratie steht. Je offener, je aggressiver er sich äußert, umso mehr geraten die Werte, auf denen unser Grundgesetz gründet, geraten Achtung der Menschenwürde und Toleranz in Gefahr. Das ist die Lehre aus unserer Geschichte. Sie ist Mahnung und Auftrag für die Gegenwart und für die Zukunft.“
Was kann die katholische Kirche dazu beitragen?
Homolka: Äußere Kritik an der jüdischen Religion ist seit Jahrtausenden eine traurige Begleiterscheinung jüdischer Existenz. Gerade die christliche Theologie zeichnete nur zu oft ein schwarzes Bild vom Judentum: als einem vergangenen Phänomen, einer verblühten Liebe Gottes. Religiöser und rassischer Antisemitismus waren die tragische Folge. Der Umschwung kam vor etwas mehr als 50 Jahren mit dem II. Vatikanischen Konzil. Johannes Paul II. bekannte 1986 vor der Jüdischen Gemeinde Roms: „Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas ‚Äußerliches‘, sondern gehört in gewisser Weise zum ‚Inneren‘ unserer Religion.“ Unaufhebbare Unterschiede zwischen Judentum und Christentum werden bleiben. Trotzdem muss die Formulierung einer gemeinsamen Zukunftshoffnung und die Benennung gemeinsamer Aufgaben für die Gestaltung der Welt als ein bahnbrechendes Ergebnis des Pontifikats Johannes Pauls II. anerkannt werden.
Die christlichen Kirchen beklagen einen großen Mitgliederschwund und eine zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft. Wie sieht die Entwicklung in den jüdischen Gemeinden aus? Welche Rolle spielt das Judentum in Deutschland in 20 Jahren?
Homolka: Wo ich arbeite, in Brandenburg, gehören die meisten Menschen überhaupt keiner religiösen Gemeinschaft an. Die Menschen dort finden es ungewöhnlich, wenn jemand in die Synagoge, die Kirche oder in einen buddhistischen Tempel geht. Der moderne Religionsdialog sollte aus der Einsicht leben: Alle, die religiös musikalisch sind, sind auf einem Weg hin zu Gott. Wir sollten nicht messen wollen, wieviel Wahrheit die einzelne Religion nun habe. Was wäre der Maßstab?
1989 gab es in ganz Deutschland nur mehr 29.000 Jüdinnen und Juden. Nach dem Fall der Mauer allerdings gab es einen Zuzug von 212.000 Kontingentflüchtlingen. Dies führte dazu, dass es heute über 120 jüdische Gemeinden in Deutschland gibt. Aber auch wir werden uns auf einem niedrigeren Niveau konsolidieren. Junge Jüdinnen und Juden ziehen in die Ballungsräume, ältere Menschen sterben. Wir werden mittelfristig auf fünfzig Jüdische Gemeinden in Mittel- und Oberzentren schrumpfen. Meine Arbeit als Direktor des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks, der jüdischen Begabtenförderung, zeigt mir aber: das Interesse am Judentum bleibt bei unseren jungen Leuten ungebrochen. Deshalb macht es Sinn, sich weiter für die Ausbildung von jüdischen Geistlichen zu engagieren, auf dass jüdisches Leben in Deutschland eine Zukunft hat.
Wolfgang Krinninger
Chefredakteur
Zur Person
Rabbiner Walter Homolka
Rabbiner Prof. Dr. Walter Homolka ist Rektor des Abraham Geiger Kollegs und Professor für Jüdische Theologie der Universität Potsdam. Am 18. August weihte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das neue Europäische Zentrum Jüdischer Gelehrsamkeit in Potsdam ein, das Homolka leitet. Der Vorsitzende der Leo Baeck Foundation wurde im September 2021 in den Strategierat von Jean Claude Kardinal Hollerich berufen, des Präsidenten der Kommission der europäischen Bischofskonferenzen und Generalrelators der 16. Ordentlichen Bischofssynode 2023. Homolka ist seit 2017 Vorstandsvorsitzender der Union progressiver Juden in Deutschland KdöR, seit 2009 Direktor des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks. Als Mitglied im Gesprächskreis Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken setzt er sich seit 20 Jahren für das Miteinander der Religionen ein. 2004 nahm ihn Staatspräsident Jacques Chirac in die französische Ehrenlegion auf.
Stationen seines beruflichen Werdegangs waren zuvor die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank, Bertelsmann, Greenpeace, die Alfred-Herrhausen-Gesellschaft für internationalen Dialog und die Kultur-Stiftung der Deutsche Bank AG. Im September 2002 wurde Walter Homolka zum Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs, des ersten Rabbinerseminars in Deutschland seit der Schoah, ernannt.