
Der ehemalige Staatspräsident von Polen, Lech Walesa, sagt im Gespräch mit dem Passauer Bistumsblatt: „Wenn wir wollen, dass der Glaube wahrer Glaube ist, dann muss er unser gesamtes Leben beeinflussen.“
Herr Präsident, das Corona-Virus kann jedem Menschen gefährlich werden. Sie selbst sind in der Öffentlichkeit mit schützendem Gesichtsvisier zu sehen. Was muss die Welt aus der Pandemie lernen?
Lech Walesa: Die Pandemie, die wir gerade erleben, ist wie ein mahnender erhobener Zeigefinger: Wenn ihr auf den alten Walesa nicht hört und die Schwachstellen nicht mit Namen nennt, wenn ihr nicht erkennt, dass neue größere Strukturen geschaffen werden müssen, dann kommen weitere Krankheiten, die uns schwer zusetzen werden. Angesichts der aktuellen Lage müssen wir uns darüber Gedanken machen, wie diese neue Epoche aussehen soll. Es ist eine Ära des Intellektes, der Informatik und Globalisierung, die andere Strukturen und Systeme braucht, als wir diese Ende des 20. Jahrhunderts gelebt haben.
Globalisierung kann Segen und – die weltweite Seuche zeigt es – auch Fluch sein…
Lech Walesa: Dieser Begriff ist an sich weder gut noch schlecht. Es meint eine Entwicklung, die nach neuen Wegen fragt. Wer keine Globalisierung will, soll sein Handy wegwerfen. Die alte Ära der Spaltungen ist zu Ende gegangen – auch dank „Solidarnosc”. Nun kommt die Ära der wachsenden Strukturen, wir aber stehen mitten in diesem Wandel. Ich nenne diese Zeit eine Ära des Wortes, eine Zeit des Dialoges darüber, wie diese neue Welt aussehen soll – sie soll die Demokratie, die Ökonomie in Zukunft sein. Die Zukunft soll bestimmt nicht kommunistisch sein – dieses System hat sich nirgendwo bewährt – aber auch nicht kapitalistisch.
„Wer keine Globalisierung will, soll sein Handy wegwerfen.”
Also weder Kommunismus noch Kapitalismus! Welche Lösung haben Sie?
Lech Walesa: Kapitalismus vertrat die Interessen von einzelnen Staaten gegeneinander, das war wie ein Rattenwettlauf. Wenn unsere Zukunft besser sein soll, dann muss der Rattenwettlauf aufhören. Somit ist die Hälfte der kapitalistischen Ökonomie unbrauchbar. Was soll den leeren Platz einnehmen? Der freie Markt? – ja, sicher – aber Vieles muss trotzdem neu diskutiert werden. Weil die alte Ära schmutzig und ungerecht war, hinterließ sie viel Misstrauen – Aufklärung tut not.
Vor über 30 Jahren wurde in Polen der Kommunismus beerdigt. Sind Sie mit der Demokratie von heute zufrieden?
Lech Walesa: Die Demokratie von damals existiert bis heute und erweist sich als fehlerhaft. Immer weniger Leute gehen zu den Wahlen. Wenn ihr auf den alten Walesa nicht hört, werden in 10 Jahren nur diejenigen zur Wahl gehen, die dabei kandidieren. Die Politiker machen die Demokratie stets schlechter, so dass bald niemand mehr zum Wählen geht. Die Menschen sind irritiert und wissen nicht, wen sie wählen sollen. Zwar wurden neue Möglichkeiten und Chancen eröffnet, aber die alten Strukturen passen nicht dazu. Daher die Probleme.
Weil es keine Lösungen gibt, erwachen die Dämonen. Die Menschen verlangen nach Wandel. Deshalb müssen wir eine neue Grundlage für die Zukunft schaffen. Auf diesem gemeinsamen Fundament lässt sich erst ein neues Wirtschaftssystem für die Zukunft stützen. Als nächstes müssen wir dem Populismus und der Demagogie, mit den großen politischen Betrügereien, die globale Ausmaße haben, den Kampf ansagen. Wir haben uns wie Götter benommen, die keine Normen anerkennen. Das ist ein sehr gefährlicher Augenblick in der Evolution.
Apropos gefährlich! Russland hat nicht wenigen Menschen in Ihrer Heimat viel Leid angetan – nehmen wir zum Beispiel das Massaker von Katyn im Jahre 1940 oder die Jahrzehnte unter der Knechtschaft des sozialistischen „Bruder“-Staates. Wie geht ein Friedensnobelpreisträger mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft um?
Lech Walesa: Von Warschau aus ist es näher nach Moskau als nach New York. Darum müssen wir unsere Beziehungen so gestalten, dass diese Nähe von Vorteil ist – was tatsächlich in vieler Hinsicht durchaus möglich ist. Es ist Zeit, die Streitereien über die Vergangenheit zu beenden und die Zukunft positiv zu gestalten. Eine neue Ära in der Beziehung zu Russland? In Russland gab es nie Demokratie. Man gibt nur schwer ein solches Altdenken auf. Russland hat sich zwar verändert, aber der Wandel dort ist langsam. Das Land braucht Zeit dafür, Kooperation und Unterstützung, damit dort ähnliche Verhältnisse herrschen wie sonst in der Welt.
Wir sollen in einer Diskussionsrunde am Tisch das Vergangene aufarbeiten. Wer ist wem wieviel schuldig? Wer hat wem Unrecht getan? Dieser Fachleutekreis soll sich damit beschäftigen und entsprechende Ergebnisse vorlegen. Ein anderer Diskussionskreis dagegen soll die neuen Zeiten ins Auge fassen, soll neue Regeln für die gegenseitigen Beziehungen und für das neue Wirtschaftssystem ausarbeiten. Es wäre gut, wenn wir dies zusammen mit Russland tun würden.
„Ich hörte, bei euch gibt es Freiheit. Ich bin zu euch gekommen, um ein wenig von dieser eurer Freiheit in meine Heimat mitzunehmen. Ich gehe nämlich davon aus, dass ein jeder von euch der Präsident werden kann.”
Als Anführer der Gewerkschaft „Solidarnosc“ haben Sie Ihr Leben riskiert, sind für die Freiheit auf die Straße gegangen. Freiheit ist aber nicht gleich Freiheit, oder?
Lech Walesa: Jede Fragestellung muss den Ort und den Zeitrahmen berücksichtigen. Für meine Eltern und Großeltern bedeutete Freiheit den Kampf gegen die russischen und preußischen Annektionsmächte. Für uns in der „Solidarnosc” war Freiheit die Öffnung der Grenzen zu Deutschland und der Sowjetunion, weil der Fortschritt nur durch friedliche Erweiterung der Strukturen möglich ist. Deshalb müssen wir solche Begriffe wie Patriotismus und Freiheit neu definieren. Freiheit besteht aus drei Elementen: Zum einen sind es die Gesetze, zum anderen die Möglichkeit der demokratischen Wahlen – und schließlich der Wohlstand der Gesellschaft.
Ich durfte viele Vorträge für Studenten in den USA halten. Gewöhnlich begann ich mit den Worten: „Ich hörte, bei euch gibt es Freiheit. Ich bin zu euch gekommen, um ein wenig von dieser eurer Freiheit in meine Heimat mitzunehmen. Ich gehe nämlich davon aus, dass ein jeder von euch der Präsident werden kann.“ Die jungen Leute haben gelacht und „Bravo!“ skandiert. Dann fragte ich aber: „Um zu kandidieren braucht ihr aber hundert Millionen Dollar. Habt ihr so viel Geld zum Verschwenden?“ Wie es sich herausstellte, konnte keiner Präsident werden. Die Freiheit hat also etwas mit Geld zu tun, sozusagen eine „Dollar-Freiheit“. Das hat den Studenten natürlich nicht gefallen. In den Vereinigten Staaten gibt es eine Freiheit, die verschiedene Organisationen und reiche Privatpersonen finanzieren. Die Amerikaner verteidigen verbissen ihre Freiheit im weiteren Sinne, indem sie stabile und feste Strukturen einrichten und an die sie sich dann halten. Wir in Polen dagegen haben unsere Strukturen zerschlagen, ebenso unsere Wirtschaft geschwächt, was wir wiederum durch Überzahl von Parteien wettmachen wollen. Daraus ergibt sich, dass Freiheit und Demokratie nicht global gesehen werden können.
Ohne den heiligen Papst Johannes Paul II. wäre es wohl mit Freiheit und Demokratie in Ihrem Land so schnell nichts geworden. Dass Sie neben Karol Wojtyla zum bekanntesten Polen der Neuzeit wurden, war Ihnen nicht in die Wiege gelegt…
Lech Walesa: Ich komme aus einem Dorf, in dem es nach dem Krieg große Not gab. Von Kindesbeinen an musste man zunächst Gänse und später Kühe auf die Weide führen. Entsprechend der Altersstufe wurde jedem eine Aufgabe in der Familie zugewiesen. Diese Zusammenarbeit diente der Familie zu ihrem Wohl. Ich heiratete eine Frau, die im gleichen Geiste erzogen wurde. Das bedeutet, die Frau war zuständig für das Zuhause und Kinder, der Mann sollte sich um eine Arbeit bemühen, die den Erhalt der Familie sichern konnte. Diese Einstellung führte dazu, dass ich mich nie um meine Familie richtig kümmerte. Ich vertraute darauf, dass meine Frau alles richtig macht. Dadurch konnte ich mich politisch engagieren. In meinem Leben strebte ich immer danach, der Beste zu sein, aber der wahrhaftig Beste. Andere haben es bemerkt und schoben mich nach vorn. Ich habe niemals etwas verraten, oder im Stich gelassen, sondern viel mehr mein Wort gehalten.
Zur „corporate identity“ gehört auch ein Anstecker mit dem Gnadenbild des Marienwallfahrtsortes Tschenstochau auf Ihrem Jacket. Wie ordnen Sie den Stellenwert von Glaube und Kirche für den Privatmann Lech Walesa auf der einen und den Staatsmann Lech Walesa auf der anderen Seite ein?
Lech Walesa: Wie ich andeutete, wurde ich im Glauben erzogen. Mein Gottesbild ist natürlich entsprechend der neuen Generation, keine mittelalterliche Einbildung. Als gläubiger Mensch bin ich fest davon überzeugt, dass der Heilige Geist die Kirche leitet. Er tut es aber nur insofern, wie die Umstände dies zulassen. Bis Ende des 20. Jahrhunderts war die Kirche durch Kommunismus und sonstige Diktaturen bedrängt und verfolgt. Deshalb entwickelte die Kirche Schutzmechanismen. Als der Kommunismus und andere Diktaturen zusammengebrochen sind, stellte sich heraus, dass die Kirche kein Felsen ohne Makel ist. Der Heilige Geist leitet jetzt die Kirche, indem er sie reinigt und den Glauben stärkt.
Die Kirche soll sich in die Politik nicht einmischen, das ist eine Sache der Politiker. Die alten Gewohnheiten sitzen aber so tief, dass der Wandel mehr Zeit braucht, als zunächst gedacht. Wenn wir wollen, dass der Glaube wahrer Glaube ist, dann muss er unser gesamtes Leben beeinflussen. Hier gibt es keine Widersprüche. Glaube und Politik können sich ergänzen, ja, sie können sich sogar nach gleichen Prinzipien orientieren.
Das Bistumsblatt bedankt sich herzlich bei Pauliner-Pater Mirko Legawiec, Pfarradministrator in Passau-Innstadt und Spiritual für die Propädeutiker, der die Interview-Fragen der Redaktion ins Polnische und die Antworten von Friedensnobelpreisträger Lech Walesa ins Deutsche übersetzte.