Soziales

Entwurzelt

Wolfgang Krinninger am 09.04.2019

2019_bistumsblatt_entwurzelt Wolfgang Krinninger

Sehnsucht ist ein mächtiger Antrieb. In den Aufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Menschen voll davon. Endlich Not, Elend und Niedergeschlagenheit zurück lassen. Satt werden, Trümmer zu Hausmauern aufschichten, Kindern ein neues, besseres Leben schenken.

Vie­le stürz­ten sich in die Arbeit – und in der Rast­lo­sig­keit wuch­sen die Träu­me wei­ter in den Him­mel. Nicht ein­ge­lös­te Schuld­schei­ne der See­le. Mei­nen Eltern erging es da wie vie­len ande­ren Ehe­paa­ren: schlecht bezahl­te Erwerbs­ar­beit, eine klei­ne Land­wirt­schaft, Kre­di­te fast ohne Til­gung, Haus­bau über vie­le Jah­re, ein Haus­halt mit vier Kin­dern, einem Groß­el­tern­paar, der Urgroßmutter. 

In unse­rem Gar­ten ent­stan­den in die­ser Zeit klei­ne Oasen: Zwei Bäu­me, ein Tisch, eine Sitz­ge­le­gen­heit. Eigent­lich wie geschaf­fen, um sich zurück­zu­leh­nen und das Erreich­te zu genie­ßen. Wenn es beson­ders gut wer­den soll­te, ver­leg­te mein Vater am Abend oder am Wochen­en­de noch Pflas­ter­stei­ne drun­ter. Gemüt­li­che Ruhe­po­le zum Rat­schen, Brot­zeit machen, in den Him­mel schau­en. Wir Kin­der spiel­ten dort mit unse­ren Freun­den, die Feri­en­gäs­te nutz­ten sie als Grill­platz und Nach­barn ruh­ten sich bei einer Hal­ben Bier aus, wenn sie in der Nähe auf einem Feld arbei­te­ten. Letz­te­res war eine der ganz weni­gen Gele­gen­hei­ten, wo sich viel­leicht auch mal mei­ne Eltern dazu setz­ten. Viel zu sel­ten. Es war ja immer viel zu viel zu tun. Ja, Sehn­sucht ist ein mäch­ti­ger Antrieb. 

All das geht mir durch den Kopf, wäh­rend ich durch den hohen Schnee um den uralten Apfel­baum stap­fe. Von der Last des vie­len Schnees ent­wur­zelt, liegt er da wie ein toter Rie­se. Nur weni­ge Meter ent­fernt steht eine mor­sche Bank. Die Oase mit der schöns­ten Aus­sicht. Nichts hält an die­sem Fle­cken Erde den Blick ins Tal, wo im Som­mer die Pfer­de gra­sen, wei­ter auf die bewal­de­ten Hügel im Süd­os­ten bis zum Gip­fel des Fried­richs­bergs. Als klei­ner India­ner konn­te ich ohne all­zu schlech­tes Gewis­sen behaup­ten, ich hät­te die Rufe mei­ner Mut­ter nicht gehört, weil die­se hei­li­gen Jagd­grün­de weit genug von der elter­li­chen Ord­nungs­macht ent­fernt waren. Als ich grö­ßer wur­de, ver­träum­te ich man­che Stun­de unterm Apfel­baum, des­sen Stamm sich trot­zig-schief in Rich­tung Osten stemm­te. Über 100 Jah­re ver­kün­de­te der krum­me Hund“ weiß blü­hend den Früh­ling, spen­de­te Schat­ten, dien­te Kühen und Pfer­den als Kratz­baum und lie­fer­te im Lauf sei­nes Lebens vie­le Zent­ner Äpfel. 

In Gedan­ken sehe ich sie vor mir: die klei­ne, wei­se Urgroß­mutter, den drah­ti­gen Opa, den Nach­barn mit dem Herz­feh­ler, der keu­chend über den Hohl­weg zu unse­rem Haus her­auf stapft, mei­ne Mut­ter mit der Sen­se in der Hand. Der schie­fe Baum trug nicht die süßes­ten Äpfel, aber er war wie geschaf­fen, um sich anzu­leh­nen. Um auf sein Tag­werk zu schau­en, um die Gedan­ken schwei­fen zu las­sen. Um die Son­ne, den Wind, die Wei­te zu spü­ren. Um ganz ruhig, ganz leicht und gelas­sen zu wer­den. Viel­leicht besteht das eigent­li­che Gerüst unse­res Daseins ja aus Augen­bli­cken wie die­sen. Flüch­tig und unend­lich kost­bar. So spar­sam gesät, dass die Sehn­sucht lan­ge davon zeh­ren kann.

Wolfgang krinninger

Wolfgang Krinninger

Chefredakteur

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