An einem lauen Sommerabend

Redaktion am 07.06.2022

2022 06 03 pb alb bike aus der ukraine

Manchmal, wenn die die Gedanken in die Ferne schweifen und dann plötzlich wieder in der Wirklichkeit ankommen, kann das den eigenen Blick umso mehr verändern. – Ein etwas anderes Editorial zur Bedeutung der Solidarität.

Mich lässt das nicht mehr los: Es war ein lau­er Frühsommerabend. Der Sohn hat grad mit sei­ner Bas­ket­ball­mann­schaft ein Spiel gegen ein Münchner Team gewon­nen und damit die letz­te Chan­ce für den Klas­sen­er­halt gewahrt. Wäh­rend er noch beim Auf­räu­men hilft und duscht, war­te ich drau­ßen vor der neu­en schö­nen Drei­fach­hal­le in Pas­sau. Ich ste­he rum, schaue, lausche.

Als lei­den­schaft­li­cher Motor­rad­fah­rer fällt mir sofort das Gespann auf dem Park­platz auf: Eine rela­tiv klei­ne Kawa­sa­ki mit einem klas­si­schen Bei­wa­gen, um die 30 Jah­re alt. So etwas sieht man nicht alle Tage. Das Gespann ist voll bepackt. Der Fah­rer hat jeden verfügbaren Platz aus­ge­nutzt. Im Bei­wa­gen und am Gepäck­trä­ger sind prall­vol­le Taschen und Tüten ver­zurrt. Das Kopf­ki­no geht sofort los: Ein Rei­sen­der mit der Nase im Wind, unter­wegs auf Stra­ßen, die am Hori­zont ver­schwin­den. Mor­gens auf­ste­hen, los­fah­ren, neue Land­schaf­ten erfah­ren“, Men­schen ken­nen­ler­nen, frem­de Kul­tu­ren erle­ben, die Frei­heit spüren… Leben pur.

Wäh­rend ich noch vor mich hin träu­me, höre ich mit einem Ohr Gesprächs­fet­zen eines Grüppchens am Rand des Park­plat­zes. Dabei schält sich eine ande­re Geschich­te her­aus als die, die ich mir zusam­men­ge­reimt habe. Mit dem Gespann ist ein Vater mit Frau und klei­nem Sohn aus der Ukrai­ne bis hier­her gefah­ren. Eini­ge jun­ge Leu­te hel­fen ihnen, den Ort aus­fi ndig zu machen, wo sie sich mel­den kön­nen und einen Platz zum Schla­fen fin­den. Sie dol­met­schen, tele­fo­nie­ren, geben Adres­sen in die Goog­le-Suche ein. Es muss ganz in der Nähe sein, denn der Mann schnallt schließ­lich eini­ge weni­ge Sachen vom Motor­rad ab und schul­tert einen alten Ruck­sack, ehe er hin­kend zu der Frau und dem Buben zurückgeht und sie mit­ein­an­der in Rich­tung alte Hal­le wei­ter­zie­hen. Ihre Rei­se hat nichts mit Urlaub, mit Frei­zeit, mit Freu­de am Lied der Stra­ße zu tun. Ihre Rei­se ist eine Flucht. Ihre Rei­se ist das Ent­kom­men aus Krieg, Zer­stö­rung, Tod und Elend.

Der Vater, die Mut­ter und der klei­ne Bub ste­hen für mich an die­sem Abend für Mil­lio­nen Men­schen auf der Flucht. Sie sind mir nah gekom­men, näher als durch drei Minu­ten in den Tagesthemen.”

Die klei­ne Fami­lie ist ange­kom­men, geret­tet, geht mir durch den Kopf. Ich fi nd es klas­se, dass auch gleich jemand da ist, der hilft im frem­den Land. Dass es bei uns einen war­men Platz zum Schla­fen gibt, Essen, Sicher­heit, Zeit zum Aus­ru­hen. Das ist gut. Der Vater, die Mut­ter und der klei­ne Bub ste­hen für mich an die­sem Abend für Mil­lio­nen Men­schen auf der Flucht. Sie sind mir nah gekom­men, näher als durch drei Minu­ten in den Tagesthemen.

Beim Heim­fah­ren fra­ge ich mich, ob im Ver­gleich dazu mein Leben nicht eine gro­ße Spie­le­rei dar­stellt? Biss­chen Bas­ket­ball gucken, im zig­fach DIN-geprüften Bürostuhl vorm Com­pu­ter gutes Geld ver­die­nen, mit dem Motor­rad am Sonn­tag­abend durch die Gegend crui­sen, sich um sie­ben Pro­zent Infla­ti­on sorgen…

Aber viel­leicht ist die­ser Luxus auch eine Auf­ga­be, die Ver­pflich­tung zu einer Soli­da­ri­tät, die über den Tag hin­aus geht, die auch dann nicht auf­hört, wenn das Elend der Über­fal­le­nen nicht mehr zur Haupt­sen­de­zeit prä­sent ist und die Betrof­fen­heits­kur­ve abflacht? Viel­leicht ist es gut, wenn mich das Bild die­ser klei­nen Fami­lie im alten Kawa­sa­ki-Gespann nicht loslässt.

Wolfgang krinninger

Wolfgang Krinninger

Chefredakteur

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