Soziales

"Du musst!"

Redaktion am 14.11.2019

Bahnhof_Du_musst

Ich schaue dem Zug noch eine Weile hinterher, der gerade den Passauer Bahnhof verlässt. Nun ist die Gertrud also wieder abgereist.

Seit vie­len Jah­ren kommt die inzwi­schen 87-jäh­ri­ge Dame aus Düren im Rhein­land jedes Jahr im Herbst auf Besuch nach Pas­sau. Leicht hat sie es nicht gehabt im Leben. Schon im Alter von acht Jah­ren wur­de sie wäh­rend des Krie­ges zum ers­ten Mal allein in einen Zug gesetzt und nach Karls­bad beför­dert. Kin­der­land­ver­schi­ckung hieß das Pro­gramm, bei dem Kin­der aus den deut­schen Städ­ten eva­ku­iert wurden.

Auf dem Land waren sie zwar siche­rer vor dem Bom­ben­ha­gel, kann­ten aber nie­man­den und muss­ten sich an stän­dig neue Orte, Men­schen und Schu­len gewöh­nen. Aber wir wur­den nicht gefragt, ob wir das schaf­fen. Es hat nur gehei­ßen: Du musst!“ Für Ger­trud steht des­halb fest: Ich gehö­re zur Gene­ra­ti­on: Du musst!“

Der dau­ern­de Wech­sel der Schu­len in der Kriegs­zeit, die dann auch teil­wei­se samt Doku­men­ten und Zeug­nis­sen abge­brannt sind, hat es mit sich gebracht, dass sie ohne Abschluss­zeug­nis aus der Schu­le kam. Das hat ihr gan­zes wei­te­res Leben geprägt: Kein Abschluss­zeug­nis, kei­ne Ausbildung. 

Gear­bei­tet hat sie trotz­dem ein Leben lang: Erst wur­den im kom­plett zer­stör­ten Düren Stei­ne auf­ge­schlich­tet, für eine Groß­bä­cke­rei hat sie Brot aus­ge­lie­fert, als Ver­tre­te­rin an der Haus­tür Wasch­pul­ver ver­kauft, in der Tep­pich­fa­brik geschuf­tet, im Rat­haus und in der Schu­le geputzt. Und drei Kin­der hat sie groß gezo­gen. Sie hat sich immer gesagt: Du musst!“

Auch als ihr ältes­ter Sohn vor 24 Jah­ren an Krebs gestor­ben ist, hat sich die Fra­ge nicht gestellt, ob sie das ver­kraf­ten kann: Du musst!“ Noch heu­te hat sie ein Bild von ihm immer im Geld­beu­tel dabei. Mein größ­ter Schick­sals­schlag!“ sagt sie trau­rig. Das ist das Schlimms­te, wenn man sein Kind beer­di­gen muss.“

Heu­er ist sie nun zum ers­ten Mal mit Rol­la­tor ange­reist, kämpft sich tap­fer übers Kopf­stein­pflas­ter in der Pas­sau­er Alt­stadt. Bewäl­tigt mit Mühe, aber kon­se­quent die Stu­fen im Pas­sau­er Ober­haus-Muse­um. Sie will ja noch so viel wie mög­lich sehen von der Welt. Jetzt bin ich ein­mal dran!“ sagt sie und beißt die Zäh­ne zusam­men. Sie ist zäh. Kriegs­ge­nera­ti­on eben: Du musst!“ Ich habe aller­größ­ten Respekt vor ihr.

War­um mir das jetzt durch den Kopf geht? Weil es mir immer öfter auf­fällt und immer mehr auf die Ner­ven geht, wenn sich Leu­te über jeden Käse furcht­bar auf­re­gen kön­nen: Weil es an der Ampel nicht schnell genug wei­ter­geht, weil das Kind in der Pro­be nicht rich­tig beno­tet wur­de, weil man nicht ganz pünkt­lich aus dem Büro gekom­men ist und das Nach­bar­kind zu viel Lärm macht.

Wie wär‘s mal mit etwas weni­ger Welt­un­ter­gangs-Stim­mung? Ich wün­sche mir für man­che Mit­men­schen (und oft genug für mich selbst!) eine gro­ße Dosis von Ger­truds Lebens-Ein­stel­lung und Kampf­geist. Bit­te nicht gleich wegen jeder Nich­tig­keit einen Auf­stand machen! Das könn­te auch in unse­rer Zeit nicht scha­den. Und ser­vus Ger­trud – bis zum nächs­ten Jahr!

Uschi Friedenberger

Ursula Friedenberger

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