Seit 2010 arbeitet die katholische Kirche in Deutschland intensiv daran, die bekannt gewordenen Fälle sexuellen Missbrauchs durch Priester und kirchliche Mitarbeiter aufzuarbeiten. Trotz umfangreicher Maßnahmen wie Schutzkonzepte, Leitlinien und Präventionsschulungen bleiben die Fortschritte, insbesondere im Umgang mit den Betroffenen, nach wie vor hinter den Erwartungen vieler zurück. Einer der führenden Experten auf diesem Gebiet, Dr. Hans Zollner, Jesuit und Kinderschutzexperte, betonte bei einem Vortrag bei der KEG Deggendorf, dass ein tiefgreifender Mentalitätswandel erforderlich sei, um die Prävention von Missbrauch in der Kirche nachhaltig zu verankern.
Ein zentraler Bestandteil dieses Wandels sei das sogenannte „Safeguarding“. Der Begriff beschreibt eine umfassende Präventionsstrategie, die sich nicht nur auf den Schutz von Minderjährigen und vulnerablen Personen konzentriert. Safeguarding umfasst vielmehr alle Maßnahmen, die sichere Räume, sichere Prozesse und sichere Beziehungen schaffen, um ein sicheres Umfeld und respektvolles Miteinander zu befördern. In kirchlichen Institutionen bedeutet dies, dass Schutzkonzepte in alle Bereiche des kirchlichen Lebens integriert werden – von Schulen und Kindergärten über Pfarreien bis hin zu Altenheimen und Krankenhäusern. Es reiche nicht, formale Leitlinien und Schulungen zu implementieren. Das Bewusstsein für den Schutz der Menschenwürde müsse tief im kirchlichen Alltag verankert sein.
Pater Zollner unterstrich, dass Präventionsarbeit zwar nachweislich wirke – die Anzahl der Neuanschuldigungen sei dort gesunken, wo Schulungen und Maßnahmen ernsthaft umgesetzt worden seien. Doch die Herausforderung bestehe darin, diese Konzepte in der gesamten Struktur der Kirche zu verankern. Es gehe darum, so Zollner, „dass man innerlich überzeugt ist, dass Menschen in Würde zu behandeln und ihnen mit Respekt zu begegnen, ein Zeichen des Evangeliums ist.“
„Bei einer generellen Sensibilisierung aller Beteiligten geht es zudem darum, dass man die Augen aufmacht, die Ohren aufmacht und das Herz aufmacht, wenn sich jemand mitteilen will – und dann den Mund aufmacht, wenn es notwendig ist.”
Im Jahr 2014 war Zollner Mitbegründer der Päpstlichen Kinderschutzkommission, mit der ein wichtiges Signal an die Weltkirche gesendet wurde. Seither ist das Bewusstsein für Missbrauchsfälle in der Kirche weltweit gestiegen. Besonders in der Präventionsarbeit, beispielsweise durch Schulungen und Leitlinien, sei viel erreicht worden. Doch die Aufarbeitung und der Umgang mit den Verbrechen bleibe eine große Herausforderung. „Wo wir wirklich nicht gut sind, bis heute nicht, ist im Zugeben von dem, was an Verbrechen im Namen der Kirche geschehen ist, auch im Namen oder durch Vertreterinnen und Vertreter der Kirche. Da fällt uns bis heute sehr schwer, tatsächlich zu sagen: Da ist so viel Schlimmes geschehen, auch durch Vertreter der Kirche“, erklärt Zollner. Der Spagat zwischen den Erfolgen in der Prävention und den Schwierigkeiten im Umgang mit den Betroffenen müsse weiter aufgelöst werden.
Für Zollner ist klar: Eine reine Implementierung von Präventionsmaßnahmen reicht nicht aus. Es bedarf eines Mentalitätswandels im kirchlichen System, der sich über Generationen erstrecken wird. „Missbrauch wird es immer geben“, sagt Zollner realistisch, „aber was wir tun können, ist, dass wir ein Umfeld schaffen, in dem solche Taten schwerer durchzuführen sind.“ Es gehe darum, Menschen zu sensibilisieren und sie zu ermutigen, aufmerksam zu sein und zu handeln, wenn sie etwas Ungewöhnliches bemerken.
Präventionsschulungen spielten dabei eine zentrale Rolle. Sie würden nicht nur dazu beitragen, potenzielle Täter abzuschrecken, sondern sensibilisierten auch das Umfeld. „Bei einer generellen Sensibilisierung aller Beteiligten geht es zudem darum, dass man die Augen aufmacht, die Ohren aufmacht und das Herz aufmacht, wenn sich jemand mitteilen will – und dann den Mund aufmacht, wenn es notwendig ist.“
Als weiteren bedeutsamen Punkt sprach Zollner den richtigen Umgang mit den Betroffenen an: „Meine Erfahrung ist, dass es ‚die Betroffenen‘ nicht gibt. Die Gruppe der Betroffenen ist sehr unterschiedlich in ihren Erwartungen und in ihren Forderungen.“ Viele von ihnen forderten Transparenz, Aufarbeitung und Verantwortlichkeit von der Kirche. „Zentral ist, dass kirchliche Stellen den Betroffenen zuhören und auf das eingehen, was sie äußern“, so Zollner. Dabei müsse jede betroffene Person individuell gehört werden, denn ihre Bedürfnisse und Forderungen sind vielfältig: Manche forderten finanzielle Entschädigungen, andere spirituelle Begleitung oder einfach nur eine Anerkennung ihres Leids. Was die meisten jedoch eine, sei der Wunsch nach Übernahme von Verantwortung und die klare Anerkenntnis der Schuld. Denn es habe in der Vergangenheit der Kirche oft an der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, gefehlt.
Zollner sah eine langfristige Aufgabe darin, Safeguarding als festen Bestandteil des kirchlichen Lebens zu etablieren. Institutionen weltweit müssten nicht nur formale Maßnahmen umsetzen, sondern das Prinzip des Schutzes und der Achtung der Menschenwürde fest im Kontext ihrer Kultur integrieren. Dabei gehe es nicht nur um die Einrichtung von Präventionsstellen, sondern darum, dass alle kirchlichen Akteure – von der Basis bis zur Führung – dieses Bewusstsein verinnerlichten. Es bedürfe mehr denn je eines Mentalitätswandels im kirchlichen System.
Seine Arbeit am Institut für Anthropologie in Rom, das er leitet, ziele darauf ab, Menschen weltweit in der Präventionsarbeit zu schulen. Er betont, dass dies besonders in den Ländern wichtig sei, in denen das Bewusstsein für Missbrauch noch nicht so stark ausgeprägt sei.
Die katholische Kirche hat im Bereich der Prävention von Missbrauch bereits viel erreicht, doch der Weg zur umfassenden Aufarbeitung und zur Implementierung einer nachhaltigen Schutzkultur sei lang. Safeguarding müsse in allen kirchlichen Bereichen zum Standard werden – ein Ziel, das Pater Hans Zollner als Generationenaufgabe betrachtet. Nur durch einen tiefgreifenden Mentalitätswandel könne die Kirche zu einem sicheren Ort für alle werden.
Susanne Schmidt
Bischöfliche Pressesprecherin