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Zugehörigkeit als Lebenselixier: Die Botschaften der Kirchenlehrerin Hildegard von Bingen stehen im Mittelpunkt eines Seminars im Europakloster Gut Aich in St. Gilgen. Unsere Autorin hat ihre Erfahrungen zusammengefasst.
Es ist nur eine kleine Geste, doch sie berührt: Nach der Vesper wäscht ein Mönch den neuen Seminar-Gästen die Hände. Dieses Benediktiner-Ritual passt perfekt zum Leitmotiv des Europaklosters Gut Aich in St. Gilgen: „In Beziehung kommen“. Das Kloster am Wolfgangsee ist ein außergewöhnliches Kloster. Es ist gerade einmal 33 Jahre alt. Gegründet wurde es 1993 von Pater Johannes Pausch mit zwei Mitstreitern.
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Der gebürtige Oberpfälzer hatte im niederbayerischen Metten die Klosterschule und das Internat besucht, war dort in den Orden eingetreten und hatte mehrere Jahre als Lehrer und Erzieher am Gymnasium gewirkt. Nachdem er viele pädagogische und seelsorgerische Erfahrungen gesammelt hatte, wurde ihm immer klarer, „dass etwas Neues entstehen muss“ – ein Kloster, das zeitgemäße Antworten auf Fragen und Nöte suchen und im besten Fall gemeinsam mit den Menschen finden kann. Sein Ziel war es, einen spirituellen Mehrwert für die Gesellschaft im Großen und den Einzelnen im Kleinen zu schaffen.
Den richtigen Platz für sein Projekt – die erste Neugründung im deutschsprachigen Raum nach etlichen Jahrhunderten – fand der Priester, Theologe, Psychotherapeut, Autor und Heilpflanzenexperte in einem aufgelassenen Kinderheim der Franziskanerinnen von Au am Inn. Aus kleinen Anfängen und trotz vieler Hürden entwickelte sich am Wolfgangsee ein Kloster, das in vielfacher Hinsicht Vorreiter ist. Es versteht sich als Integrationsmodell, um ein „gutes Leben“ zu lernen und die Gesundheit an Leib und Seele zu fördern. Darüber hinaus will es als Europa-Friedenszentrum übergreifende Werte vermitteln. Die Einrichtungen des Klosters stehen allen offen, gleich welcher Religion, Weltanschauung und Herkunft.
Auf dem weitläufigen Areal wurde ein der natur- und heilkundigen heiligen Hildegard von Bingen gewidmetes „Hildegardzentrum“ eingerichtet. Diese war 2012 von Papst Benedikt XVI. neben Theresa von Avila, Katharina von Siena und Theresa von Lisieux zur Kirchenlehrerin erhoben worden. Sie steht auch im Mittelpunkt unseres Seminars, das Pater Pausch leiten wird.
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Nach der Vesper treffen wir uns im Gästerefektorium zum Abendessen. Das Kennenlernen erleichtert das Stamperl Klosterlikör, das uns Bruder Martin kredenzt. Wir haben die Wahl aus einer großen Palette und der Benediktiner erklärt, was jeweils gut für oder gegen was ist. Tannenwipfel für den Hals, Rosenlikör für die Liebe und Mandarine „für gar nix“… Beim Frühstück am nächsten Morgen sollen wir schweigen. Als Nachteule und Morgenmuffel ist mir das nur recht. Mit der Dinkelspeise Habermus kann ich mich aber gar nicht anfreunden.
Bei seinen Vormittagsimpulsen geht es Pater Johannes weniger um die Vermittlung von Hildegard-Rezepten, die man vielfach nachlesen kann. Er wünscht sich vielmehr, dass wir diese intelligente sensible Frau, eine „verwundete Heilerin“, mit dem eigenen Wesen verstehen und so selbst Zugang zu Heilung finden können. Hildegards Denken sei ein Kunstwerk, eine spirituelle Heilkunde. Heilpflanzen, Mineralien und Ernährung wirkten dabei immer nur unterstützend. Vielmehr gelte es, Disharmonien zu erkennen und (wieder) in Balance mit sich selbst, anderen, Gott, dem Leben zu kommen. Auch hier lautet das Zauberwort „Beziehung“. Lebt ein Mensch in Isolation oder ist er in Beziehung? Es gelte, die eigene Lebenssehnsucht, die innere Lebenskraft, das Urvertrauen zu entdecken, sich zu fragen: Wo finde ich echte Erfüllung?
Im Paradiesgarten, in dem Unmengen von Kräutern sprießen, lernen wir wieder zu hören (Vogelgezwitscher, den Wind), zu tasten und zu fühlen (mit geschlossenen Augen ein Blatt), zu riechen (Was ist das?) und zu schmecken („Aaaah Zitronenmelisse!). In der Küche backen wir mit Pauschs Assistentin Kristina Proleta Gewürzkekse, trinken Wasser, das wir mit bunten Blütenblättern aromatisiert und verschönert haben (was für ein Anblick!) und setzen eine Tinktur, einen Weinauszug, an. Dafür hat sich jeder intuitiv eine Pflanze (oder zwei) ausgesucht, die ihn aktuell am meisten anspricht. Ringelblumen, Rosen, Kapuzinerkresse – ich finde viele wunderbunt, doch irgendwie zieht es mich zu unscheinbaren lila Blüten, die eifrig von Bienen umschwirrt werden: dem Borretsch, auch bekannt als Gurkenkraut. Kristina erklärt uns die Bedeutung und Wirkung „unserer“ Pflanzen und es ist erstaunlich, wie stimmig unsere Wahl ist.
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Dennoch sind es nicht die Kräuter allein, die uns heilen. Pater Pausch betont immer wieder: „Was uns heilt, sind Glaube, Hoffnung und Liebe.“ Zugehörigkeit sei ein Lebenselixier. Besonders nach der stillen Anbetung, bei der die Kirche nur von Kerzen beleuchtet wird, spüren viele von uns die verbindende Kraft der gemeinsamen Stille und des Gebets ganz intensiv. Das Gotteshaus verlassen wir, ohne zu sprechen. Und haben plötzlich den Impuls, uns in den Arm zu nehmen.
Im Übrigen sei das Klosterleben nicht überholt, sagt Pater Johannes. Es gebe eine große Sehnsucht nach einem „Wir“, nach einem Miteinander – je mehr die Welt aus den Fugen gerät. Neun Benediktiner leben aktuell hier. Die Altersstruktur nennt Pausch ein „gutes Mittelalter“. Gerade ist wieder ein neuer Mönch aus einem anderen Kloster nach St. Gilgen gekommen. Ein Kandidat prüft den Eintritt. Neben Pater Johannes gibt es noch einen weiteren berühmten Bewohner: den österreichisch-amerikanischen Benediktinermönch, Eremiten und spirituellen Lehrer David Steindl-Rast, der soeben seinen 99. Geburtstag gefeiert und zahlreiche vielbeachtete Bücher geschrieben hat.
Text und Fotos: Christine Hochreiter


