
30 Jahre hat Albert Meindl die Caritas-Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern in Passau geleitet. Zum 1. September geht er in Ruhestand. Im Gespräch blickt er zurück auf ein Berufsleben voller Herausforderungen, auf Familien im Wandel und auf das Glück der kleinen Erfolge.
Was geht dir durch den Kopf, wenn du auf 38 Jahre als Berater und 30 Jahre als Leiter der Beratungsstelle zurückschaust?
Meindl: Ich schaue zurück auf einen wirklich schönen, spannenden Beruf. Für mich persönlich war das ein Traumjob. Ich bin ja als junger Psychologe hierhergekommen. Dann die Entwicklung über viele Jahrzehnte mitzukriegen – sowohl als Berater und Mitglied des Teams als auch in der Leitungsverantwortung – war großartig.
Als du anfingst, war die Ausgangslage sicher noch ganz anders als jetzt, oder?
Meindl: Was damals schon begonnen hat, war, dass die Akzeptanz, Familienberatung auch in Anspruch zu nehmen, gewachsen ist. Wenn Eltern früher mit den Kindern Probleme hatten, ist man zum Kinderarzt oder zum Hausarzt gegangen. Dann begann die Entwicklung, dass die Familien dann auch zu uns geschickt worden sind. Es waren wenig Eltern, die selber freiwillig gekommen sind. Aber sie wurden von den Ärzten und dann von den Schulen zu uns geschickt. Damit ging es los. Es ging um klassische Erziehungsthemen und Entwicklungsauffälligkeiten. Wir hatten viele Kinder, bei denen es um Ängste, Schlafstörungen, Schlafängste und Ähnliches ging.
Und wie schaut es heute aus?
Meindl: Es hat sich schon sehr verändert. Wir haben jetzt eine Situation, wo wir ganz viele Trennungsfamilien haben, wo es oft um Trennungskonflikte geht, weil Eltern die Trennung nicht gut hinkriegen. Wir haben viele alleinerziehende Eltern, da geht es ganz stark um das Thema Überforderung: Wie kommen sie alleine mit dieser Situation – mit den Kindern und zugleich der Berufstätigkeit – zurecht. Allein von dem Thema her hat sich die Situation gravierend verändert.
Du sprichst das Thema Trennung an. Auch das Familienbild hat sich wahrscheinlich heute völlig verändert im Vergleich zu früher. War das Familienleben damals besser oder wird es verklärt?
Meindl: Ich glaube, das Familienleben war dahingehend besser, dass es ruhiger war. Der innerfamiliäre Stresspegel war zur damaligen Zeit niedriger. In der Regel war es so, dass die Mütter viele Jahre zu Hause bei den Kindern waren, vielleicht später wieder in den Beruf einstiegen. Diese klassische Rollenverteilung hat schon auch zu einer gewissen Beruhigung in den Familien beigetragen. Als allerdings dann die Situation entstand, dass sich immer mehr Eltern getrennt haben, war das natürlich für diese Frauen ein großer Nachteil. Weil es dann um die Themen Versorgung und Unterhalt geht und so weiter. In der Folgezeit haben Väter und Mütter versucht, beruflich Fuß zu fassen. Damit steigt natürlich der familiäre Stresspegel: Wer hat wie viel Zeit? Wer betreut die Kinder? Parallel begann der Ausbau der Kindertagesstätten, die Kinderbetreuung auch in Krippen. Das hat alles Vorteile, aber es hat schon auch schlussendlich seinen Preis.
Wenn du zurückschaust, was waren für dich die schönen Momente in deinem Berufsleben?
Meindl: Ich empfand unsere Teamentwicklung immer als Geschenk, dass wir wirklich ein größeres Team sind, wo wir uns fachlich gut austauschen und gut überlegen können, wie wir bestimmte Dinge angehen. Schöne Momente in der fachlichen Arbeit sind es auch, wenn man längere Zeit mit Kindern oder Familien arbeitet und man sieht: Wow, die kriegen das jetzt echt hin. Und man merkt, dass die jetzt so für sich selber gute Lösungen entwickeln und dann weggehen und sagen, das war jetzt echt super. Was ich auch total schön fand: Wir haben von der Trägerseite her schon manchmal um Lösungen gerungen. Aber ich habe viele Jahrzehnte von Seiten des Caritas-Verbands Unterstützung und ein Wohlwollen gehabt – unserer Arbeit und unserem Team gegenüber. Das ist nicht selbstverständlich. Das hat viel ausgemacht für das Arbeiten hier in unserem Team. Und auch die kommunalen Verantwortlichen aus der Stadt und dem Landkreis Passau waren uns wohlgesonnen. So konnten wir viele Projekte und viele neue Angebote entwickeln.
„Schöne Momente in der fachlichen Arbeit sind es auch, wenn man längere Zeit mit Kindern oder Familien arbeitet und man sieht: Wow, die kriegen das jetzt echt hin. Und man merkt, dass die jetzt so für sich selber gute Lösungen entwickeln und dann weggehen und sagen, das war jetzt echt super.”
Aber ich könnte mir vorstellen, dass es auch frustrierende Momente gegeben hat?
Meindl: Die sind gar nicht so viele, wie man es vielleicht vermuten würde. Eigentlich gibt es nur eine Symptomatik, die ich echt stressig und nicht so positiv fand: Wenn man getrennte Eltern da hat in der Beratung und ein Elternteil ist noch so in dem Trennungsärger verstrickt, dass er überhaupt nicht in der Lage ist, sich wirklich auf eine konstruktive Gesprächsebene zu begeben, sondern nur den anderen Elternteil abwertet. Und auch alles andere abwertet: Jugendamt, Familiengerichte und alles. Wenn man das Gefühl hat, man kriegt da überhaupt keinen Fuß rein. Das kann man auf der Erwachsenenebene auch mal so stehen lassen. Wenn man aber mitkriegt, dass da Kinder im Hintergrund sind, die massiv unter der Situation leiden, dann finde ich das das absolut Anstrengendste in unserem Job. Wenn man sieht, dass Kinder die Zeche zahlen, weil Eltern bestimmte Sachen in ihrem Leben nicht auf die Reihe kriegen. Aber das sind wirklich Ausnahmen. Überwiegend merkt man eigentlich, was es an Positivem bewirken kann und wie die Kinder davon profitieren, wenn Eltern sich auf so einen Beratungsprozess einlassen.
In den letzten Jahren hat das Handy einen enormen Stellenwert bei vielen Familien, gerade bei vielen Kindern und Jugendlichen eingenommen. Wie siehst du es? Ist es mehr Fluch oder ist es mehr Segen?
Meindl: Das ist ein bisschen zu schwarz-weiß. Es gibt auf jeden Fall Bereiche, da ist es ein Fluch und da braucht es klare Regeln. Eine bestimmte Medienausstattung im Kinderzimmer haben wir immer kritisch gesehen. Weil das voraussetzen würde, dass ältere Kinder in der Lage sind, die Mediennutzung auch selber zu steuern. Das können die meisten Kinder aber einfach nicht. Das heißt, die brauchen Regeln. Und wenn es Eltern nicht gelingt, diese Medien rauszunehmen, wenn sie merkten, dass das für die Kinder schädlich ist, dann haben wir die massive Zunahme von Kindern mit Schlafstörungen, Hyperaktivität, Ängsten und, und, und. Weil sich die Kinder dann zum Teil Sachen reinziehen, die sie massiv belasten. Wenn da keine Steuerung passiert, dann ist das wirklich eher ein Fluch, das muss man eindeutig sagen.
Wäre es aus deiner Erfahrung gefordert, dass da der Gesetzgeber noch stärker einwirkt – wie es etwa in Australien geschehen ist?
Meindl: Ich habe immer ein bisschen Zweifel, wie viel dann wirklich in den Familien davon umgesetzt wird. Aber wichtig und interessant finde ich, dass so eine Gesetzesinitiative immer auch ein öffentliches Bewusstsein schafft. Ich glaube, dass im Moment die öffentliche Meinung zur Nutzung sozialer Medien durch junge Menschen echt naiv ist. Der Knackpunkt ist: Wenn keine entsprechende Kontrolle da ist, spielt ein 12-Jähriger nicht Spiele für einen 12- oder 13-Jährigen, sondern er zieht sich alle Sachen rein, die ab 18 sind. Und zum Teil stellen ihnen die Eltern das zur Verfügung oder die Eltern spielen selber solche Spiele. Und dann haben wir natürlich hier eine Problematik, wo die Kinder massive Ängste zeigen oder Fantasien entwickeln, die wirklich gruselig sind. Und da braucht es eigentlich eine andere Regelung. In der Beratung alleine anzusetzen, finde ich dann wirklich zu wenig.
Rat und Hilfe für Familien
Die Caritas-Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern in Passau ist erreichbar unter: 0851 50126 – 0 // eb-passau@caritas-passau.de. Infos: www.caritas-erziehungsberatung-passau.de
Ein weiterer Ansprechpartner ist die Ehe‑, Familien- und Lebensberatung im Bistum Passau:
- Regionalzentrum Passau: 08 51 34337
- Regionalzentrum Altötting: 08671 1862
Infos: https://efl-passau.de
In eurem Leitbild steht: Wir wollen eine Atmosphäre schaffen, in der Menschen ihre Stärken, Potenziale und Kreativität wiederfinden. Wie macht ihr das?
Meindl: Das Stichwort heißt Ressourcenarbeit. Man geht nicht her und sagt: Die Menschen kommen und die haben eigentlich nur Probleme und bringen überhaupt nichts auf die Reihe. Das Verständnis hat sich verändert. Also es ist nicht so, dass alles nur schiefläuft, sondern es gibt auch Erfahrungen, wo etwas gelingt, wo etwas glückt. Und da setzen wir an. Wir gehen schrittweise einen Tagesablauf durch. Man sucht wie bei einem Kreuzworträtsel nach kleinsten Punkten, wo was hinhaut. Ein Beispiel: Das Aufstehen und Frühstück, das haut schon einigermaßen hin. Okay, warum haut das hin? Wie läuft das ab? Man nimmt Beispiele her, wo im Alltag Situationen gelingen, und analysiert, wie kommt es? Und dieses Gefühl, manche Dinge gelingen ja, das kriegen wir ja hin, das ist eine Grundbasis, auf der wir sagen: Und jetzt schauen wir uns Dinge an, die nicht funktionieren. Was und wie laufen die ab? Wenn ich eine Idee habe, das, was ich schaffe, rüberzunehmen in eine Konfliktsituation, wenn das gelingt, das macht den Beratungserfolg aus. Und dieses Arbeiten, das ist mega spannend.
Was macht denn einen guten Berater aus? Was muss er denn können?
Meindl: Ein guter Berater sollte fachlich gut geschult, gut weitergebildet sein. Man muss sich ehrlich ständig weiterbilden, um wirklich auch dranzubleiben bei den neuen Entwicklungen. Und es ist wichtig, dass man einfach Neugierde hat am Leben von Menschen. Ich hatte mal einen Kollegen, der hat gesagt, ihn interessiere als Psychologe am meisten: Wie machen die Leute es, dass die ihr Leben auf die Reihe bringen? Und was passiert, wenn es nicht gelingt? Und ich glaube, diese Neugierde ist ein wichtiger Punkt.
Hat der christliche Glaube für dich und deine Arbeit eine wichtige Rolle gespielt? Hat er dir Kraft gegeben?
Meindl: Also auf jeden Fall spielt das christliche Menschenbild eine Rolle. Dass man sagt: Egal, wie die Menschen kommen, sie sind zunächst einmal deine Nächsten. Ich bin mit dem früheren Motto der Caritas „Not sehen und handeln“ groß geworden. Das drückt dieses Verständnis aus: Es kommen Menschen zu uns, die in Not sind, die Hilfe brauchen, und wir von der Caritas schaffen es, ihnen wirklich eine Hilfe zu geben.
Nach so langer Zeit, was wirst du am meisten vermissen?
Meindl: Also, das kann ich noch gar nicht so genau sagen. Zunächst einmal spüre ich eher so das Gefühl, ich freue mich, wenn ich viel Verantwortung abgeben kann. Als Leiter hat man viel Verantwortung. Gerade beim Thema Kindeswohlgefährdung. Was muss man machen? Wie ist es zu sehen? Was sind die nächsten Schritte, die zu tun sind? Und immer zu hoffen, dass man die richtigen Entscheidungen trifft, weil es auch ganz schnell für Kinder auch kritisch werden kann, das empfinde ich schon als eine Verantwortung – und da bin ich jetzt schon froh, wenn ich die abgeben kann.
Und worauf freust du dich am meisten im neuen Lebensabschnitt, der jetzt kommt?
Meindl: Wir haben ja das Glück, dass wir mehrere Enkelkinder haben. Ich merke jetzt schon, dass ich es sehr genieße, wenn ich Zeit mit den Enkelkindern verbringe, weil ich jetzt einfach viel entspannter, ruhiger sein kann als damals, als unsere eigenen Kinder klein waren. Darauf kann ich mich jetzt einfach einlassen und genieße das echt sehr.
Hinweis: Der Autor arbeitete mit Albert Meindl unter anderem beim Projekt „Passauer Elternbriefe“ zusammen, deshalb das vertrauliche „Du“.

Wolfgang Krinninger
Chefredakteur