In den Tagen vor dem dritten Sonntag im Juli wird es in Niedergottsau deutlich betriebsamer als sonst im Jahr: Die Vorgärten werden in Ordnung gebracht; die Einfahrten gekehrt; am Kirchplatz wird ein Marktstand des Missionskreises aufgebaut; an den Fahnenmasten flattert der Festbehang; die Gartenzäune entlang der Dorfstraßen sind mit kleinen Buschen mit gelb-weißen Bändern geschmückt; für alle wird sichtbar, dass ein großer kirchlicher Festtag bevorsteht. Und viele derjenigen, die schon lange wegen des Studiums oder aus beruflichen Gründen den Niedergern in Richtung der großen Städte in Nieder- und Oberbayern oder gar noch ferner verlassen haben, kommen zurück „nach Hause“, an den Inn, nach Niedergottsau – für ein Wochenende zur Familie und für das wichtigste Ereignis im Jahreslauf des 300-Seelendorfs überhaupt: Für das in der Barockzeit vor über 300 Jahren begründete Skapulierfest.
Die Verelendung des Landstrichs in Folge des Dreißigjährigen Krieges, die permanente Bedrohung durch Seuchen und nicht zuletzt die Furcht vor den Osmanen ließ gläubige Menschen nach Halt suchen und sich dem Schutze Mariens empfehlen. Ihrem Beispiel folgend wollte man das Leben den Heiligen Tugenden entsprechend führen und sich gemäß des Skapuliergebets „an deine Würde als Christ und an deine Bereitschaft, für andere da zu sein wie Maria“ erinnern. Dazu gehörte auch die Entschlossenheit, „den Willen Gottes zu erfüllen und am Aufbau einer Welt mitzuarbeiten, die den Plan Gottes unterstützt, der Welt Gerechtigkeit, Frieden und Liebe zu bringen“. Große Angst machte den Katholiken dieser Zeit im Niedergern auch das Fegefeuer. Der Besitz des Bruderschaftsbriefs versprach neben vollkommenem Ablass das „Samstagsprivileg“: Spätestens am Samstag nach dem Todestag würde man aus dem Zustand der Reinigung befreit. Nicht unerheblich für die Gründung der Niedergottsauer Skapulierbruderschaft mag auch der Bedeutungsverlust der wesentlich älteren Marienwallfahrt zugunsten Altöttings gewesen sein.
Foto: Maximiliane Heigl-Saalfrank
An diesem Sonntag (20. Juli) findet das Hochfest der Bruderschaft zum 335. Male statt. Christa Feyrer heißt die neue und erste Obfrau der traditionell weiterhin als Bruderschaft bezeichneten Vereinigung hoher Marienfrömmigkeit. Zwischen 600 bis 700 Mitglieder habe die 1690 gegründete Skapulierbruderschaft im Augenblick, sagt der stellvertretende Obmann Thomas Wagner, während er die kleinen Bruderschaftsbrieflein mit dem Bildnis von Papst Pius XII. ausfüllt. Vier Eintritte kann der Skapulierbruder heute bereits vor Beginn des Festgottesdienstes in das Bruderschaftsbuch eintragen, während er ein Skapulier aus einem Zellophantütchen nimmt. „Die meisten treten nach der Messe ein, letztes Jahr waren es elf. Früher kamen die Mitglieder der Bruderschaft von überall her, nicht nur aus dem Dorf und der Umgebung. Es wurden vier Messen am Hochfest gehalten“, erinnert sich Thomas Wagner. Er ist wie Christa Feyrer seit seiner Erstkommunion mit dabei. „Bei mir sind das heuer 50 Jahre, ein halbes Jahrhundert“, sagt die künftige Vorständin der „Marianischen Erzbruderschaft des heiligen Scapuliers“.
Wie viele Symbole des katholischen Glaubens geriet das Skapulier, ein zweiteiliges kleines Stück Stoff, das an einem Band um den Hals getragen wird, im Laufe des 20. Jahrhunderts weitgehend in Vergessenheit. Seinen Namen hat es von der ursprünglich über die Schulter, lateinisch: Scapula, geworfenen Arbeitsschürze der Mönche. Sie wurde Teil der Habite vieler Orden und Symbol für das Joch Christi.
Im Mittelalter eiferten Katholiken dem Lebensstil der neu entstandenen Bettelorden wie den Karmeliten nach, die kleine Skapuliere aus Wolle – durch Schnüre verbunden – über Brust und Rücken trugen. Dieses kleine braune Skapulier ist bis heute Zeichen einer marianisch geprägten kontemplativen Laienspiritualität, in deren Mittelpunkt „Unsere Lieben Frau vom Berge Karmel“ steht.
In der Sakristei der Mariä Himmelfahrtskirche geht es derweil geschäftig zu, die Minis in Chorrock und rotem Festtalar warten souverän, aber doch merklich angespannt auf den Beginn der Festmesse. Die Priester legen gerade ihre festlichen Kaseln an. Letzte Programmpunkte im Ablauf werden noch einmal durchgegangen, der Wechsel an der Spitze der Skapulierbruderschaft soll ja in der Messe verkündet werden. Alle sind aufgeräumt und sichtlich voller Vorfreude auf den Festtag. Festprediger ist in diesem Jahr Pfarrer Jozef Jakub Krowiak. In den kommenden Wochen werden Messen für die verstorbenen Mitbrüder und- Schwestern gelesen.
Foto: Maximiliane Heigl-Saalfrank
Kanonenschüsse der Böllerschützen donnern durch die Luft, der Kirchenzug nimmt Aufstellung, die Festkapelle spielt schneidig den Bozener Bergsteigermarsch, zu dem es sich einfach gut im Takt marschieren lässt. Der Zug setzt sich in Bewegung, Männer und Frauen in Festtracht und Festkleidung, mit Vereinsfahnen- und ‑bannern gehen auf der Marienstraße in Richtung Kirchplatz. Die Gläubigen nehmen ihre Plätze in der Kirche ein, von deren großer Vergangenheit zahlreiche Votivtafeln und die vielen Mariendarstellungen aus den verschiedenen Epochen überall im Kirchenschiff künden. An der Kirchenmauer rechts vom Hauptportal lehnen schon die rotseidenen Prozessionsfahnen der Bruderschaft mit dem Bildnis der Niedergottsauer Mondsichelmadonna. In der Nische eines alten Grabes steht der Traghimmel, bereit nach der Messe das Allerheiligste durch die Straßen Niedergottsaus zu beschirmen. Das Hochfest kann beginnen.
Text und Fotos: Maximiliane Heigl-Saalfrank


