Und doch waren sie auf das, was sie in Auschwitz erwartete, nicht vorbereitet: Auf die apathisch herumliegenden, völlig ausgemergelten Menschen, auf die Leichenberge, auf die abgemagerten Kinder.
Das KZ Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit. Etwa 8600 Häftlinge waren zu dem Zeitpunkt noch im Lagerkomplex, Hunderte von ihnen so schwach, dass sie in den folgenden Tagen trotzdem starben. In den Tagen vor der Befreiung hatte sich der „vollkommene Hass des Nazi-Vorhabens“ (Ronald S. Lauder, Präsident des Jüdischen Weltkongresses) noch einmal offenbart: Tausende Häftlinge wurden von der SS auf Todesmärschen ohne Proviant, ohne Pausen, ohne warme Kleidung in Richtung Westen, in den Abgrund getrieben.
Mindestens 1,1 Millionen Menschen ermordeten die Nazis allein in Auschwitz, die meisten davon Juden aus verschiedenen Ländern Europas. „Dieser Ort sei allezeit ein Aufschrei der Verzweiflung und Mahnung an die Menschheit“, heißt es an einem Denkmal im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Und der damalige Bundespräsident Joachim Gauck mahnte 2015: „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz. Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben.“
Und doch ist diese Erinnerung gefährdet. Laut einer Studie der Bertelsmannstiftung von 2015 möchten mehr als die Hälfte (55 Prozent) der befragten Deutschen unter dieses Kapitel ihrer Geschichte einen Schlussstrich ziehen. Hinzu kommt, dass es bald keine Zeitzeugen mehr geben wird, die in Schulklassen, Parlamenten oder TV-Diskussionen das Unfassbare schildern können. Die Gefahr, dass die Erinnerung immer mehr verblasst, ist groß.
Der 27. Januar, 75 Jahre nach der Befreiung, ist deshalb ein (überlebens)wichtiger „Denktag“ für dieses Land. Durch viel zu viele – vor allem auch junge – Köpfe wabert inzwischen wieder das braune Gedankengut von einst. Andersdenkende werden mit Hass überzogen und niedergebrüllt, Politiker bedroht, Juden können sich nicht sicher fühlen.
„Wenn Verstehen unmöglich ist, dann ist Wissen notwendig, denn was geschehen ist, könnte zurückkehren“, lautete eine Maxime des Auschwitz-Überlebenden Bruno Levi. Wie für viele andere, war auch für ihn Gott in Auschwitz gestorben. Wie sollte es einen Gott geben, der so etwas zulässt? Und doch: Mehr als über Gott sagt Auschwitz etwas über den Menschen. Wozu er fähig ist, wie gottlos er sei kann, wie hemmungslos brutal.
Keiner von uns trägt eine Schuld an den Naziverbrechen von damals. Aber jeder von uns, in dem ein Funken Patriotismus steckt, ist verantwortlich dafür, dass so etwas nie wieder passiert. Und Auschwitz begann nicht erst mit dem Bau einer unbarmherzigen, perfektionierten Tötungsmaschinerie. Auschwitz begann mit dem Wegschauen und Weghören, es begann damit, dass die Menschen aufhörten, ihres Bruders, ihrer Schwester Hüter zu sein. Auschwitz begann, als die Würde des Menschen antastbar wurde. Dann gab es kein Halten mehr.
Wolfgang Krinninger
Foto: Antonia Krinninger
Sie haben Fragen zum Artikel?
Wir helfen Ihnen gerne.
Wolfgang Krinninger
Chefredakteur