Haben Sie auch etwas herumgeschildkrötelt in der Zeit “zwischen den Jahren”, wenn alles irdische Getriebe ein wenig stillzustehen scheint? Das hat der Kabarettist Gerhard Polt einmal über die Muße gesagt. Ein herrliches Wort! Die Schildkröte vermittelt mit ihrer bedächtigen Art tatsächlich eine beneidenswerte Widerstandskraft gegen Stress, Hektik und Sorgen. Alles scheint an ihrem Panzer abzuprallen.
Und wir? Na ja, mit der Betulichkeit ist es schnell wieder vorbei, wenn uns Teilzeit-Schildkröten der Alltag im neuen Jahr wieder einholt. Kostensteigerungen bei Energie, Lebensmitteln und Wohnen? Immer noch da. Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten? Immer noch da. Marode Bahn? Immer noch da. Klima- und Migrationskrisen? Immer noch da. Zerstrittene Politik? Immer noch da. Wie sollen wir denn da zuversichtlich in das noch junge Jahr blicken?
Nach dem jüngsten ARD-Deutschland-Trend vom 4. Januar tun das nur noch 55 Prozent der Menschen hierzulande – satte sieben Prozent weniger als vor einem Jahr. Neun Prozent mehr (insgesamt 32 Prozent) erwarten gar ein persönlich schlechteres Jahr. Und ungerecht geht’s sowieso zu: Lokführer und Ärzte streiken, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen. Die Bauern setzen aus demselben Grund mit ihren Traktoren eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf deutschen Straßen durch. Nicht nur Geringverdiener betrachten das Bürgergeld als ungerecht und viele die Sozialleistungen für Migranten und Flüchtlinge überhaupt.
Aber haben wir uns nicht erst vor wenigen Tagen fröhlich ein gutes neues Jahr gewünscht? Ja, haben wir. Und zwar zu Recht. Wir glauben nur offenbar selbst nicht daran. Uns Deutschen sagt man ja nach, dass eine tiefe Grundangst vor Verlust (ob nun an Wohlstand, Sicherheit oder anderem) in uns verankert ist – die berühmte “German Angst”.
Was hilft dagegen? Einmal “nach links und nach rechts” schauen, in die Nachbarschaft oder in die weite Welt. Dann relativiert sich manches. Auf den großen Zusammenhalt in der Bevölkerung bei Umweltkatastrophen oder anderen Herausforderungen schauen – aktuell die Überflutungen in Nord- und Ostdeutschland. Auf das konstant hohe Niveau an ehrenamtlichem Engagement in Kirchen, Vereinen oder Verbänden schauen: Rund 29 Millionen Menschen engagieren sich überall in unserer Gesellschaft für das Gemeinwohl. Auf die trotz gestiegener Lebenshaltungskosten und Inflation nach wie vor hohe Spendenbereitschaft schauen … usw.
Wir haben die Wahl: Wir können den Kopf in den Sand stecken oder die Ärmel hochkrempeln. Wir können uns für Melancholie, Schwarzmalerei und Pessimismus entscheiden. Oder für die Hoffnung – jeden Tag des neuen Jahres aufs Neue. Wer wüsste das besser, als wir Christen? Nachdem wir gerade erst an Weihnachten die Hoffnung der Welt gefeiert haben.
Wolfgang Terhörst
Redaktionsleiter