Zum 85. Mal jähren sich heuer die Novemberpogrome gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland – und auch jetzt ist jüdisches Leben wieder bedroht: weltweit, auch in Deutschland. Das vielfach geäußerte „Nie wieder!“ darf keine leere Floskel bleiben, fordert Chefredakteur Wolfgang Krinninger im Editorial der aktuellen Ausgabe Nr. 46.
Niemand verlässt dieses Land unbeeindruckt. Israel packt dich. Es berührt dich tief drin. Drei Mal durfte ich es bisher erleben. Bei jedem Besuch waren meine Sinne überfordert – und manches erschien mir fast wie ein Wunder: Die Stille in der Negev-Wüste. Das Aufgehen der Sonne am Jordangraben. Das Gedränge, die Gerüche, die Vielstimmigkeit auf der Via Dolorosa in Jerusalem. Staunend ließ ich mich mitreißen.
Doch Israel ist viel mehr als Pilgerort und Touristenmagnet. Es ist ein Exitroom, ein Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden aus der ganzen Welt. Wirklich verstanden habe ich das erst in Masada und in Yad Vashem. Die Felsenfestung Masada war um 70 nach Christus der letzte Rückzugsort für 973 jüdische Zeloten beim Aufstand gegen die Römer. Drei Jahre behaupteten sie sich auf dem Felsplateau inmitten der Wüste erfolgreich gegen eine zahlenmäßig gewaltige Übermacht. Als es den Römern doch gelang, eine Bresche in die Mauer der Festung zu schlagen, beschlossen die Rebellen, lieber gemeinsam zu sterben als in die Knechtschaft der Römer zu gelangen. Unser Guide machte uns damals klar: Auch Masada steht für „Nie wieder!“.
Yad Vashem ist Gedenkstätte, Denkmal, Monument, Forschungs- und Bildungsstätte gleichermaßen. Auf dem Berg der Erinnerung bei Jerusalem werden die Gräueltaten der Nazis fassbar, aber auch die Heldentaten der „Gerechten“, die ihr Leben für die Rettung jüdischer Mitbürger riskierten. Und vor allem bekommen hier die sechs Millionen von den Deutschen und deren Helfern ermordeten Juden, die jeglicher Würde beraubt und zu Nummern degradiert wurden, wieder einen Namen. Jesaja 56,5 steht wie eine Art Präambel über der Gedenkstätte: „Und ihnen will ich in meinem Hause und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen („Yad Vashem“) geben … der nicht getilgt werden soll“. Wohl niemand, der noch ein wenig Empfindsamkeit in sich trägt, wird diesen Ort so verlassen wie er ihn betreten hat.
Das unfassbare Morden, das in Yad Vashem dokumentiert ist, begann in der Nacht von 9. auf 10. November 1938. Organisierte Schlägertrupps zerstörten 7500 jüdische Geschäfte und über 1200 Synagogen. Mehr als 1000 Jüdinnen und Juden starben, 30.000 Menschen wurden in Konzentrationslager verschleppt. Und alle konnten es sehen. Die Nachbarn, die Kollegen, die Bekannten im Verein.
Am 7. Oktober 2023, an einem Shabbat, ermordeten Hunderte Hamas-Terroristen auf bestialische Art 1500 Menschen, Kinder, Frauen und Männer. Mehr als 200 Personen wurden nach Gaza entführt. An keinem anderen Tag seit dem Holocaust wurden mehr Juden ermordet als am 7. Oktober. Für Israel hat am „schwarzen Shabbat“ erneut ein Existenzkampf begonnen. Seit die israelischen Streitkräfte gegen die Hamas im Gazastreifen kämpfen, müssen Juden weltweit noch mehr als sonst um ihre Sicherheit bangen, auch bei uns in Deutschland. 85 Jahre nach den Novemberpogromen trauen sich Kinder nicht mehr aus dem Haus, Synagogen werden angegriffen, Davidsterne an Wohnungstüren von Juden geschmiert. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat seit dem 7. Oktober fast 2000 Straftaten in Deutschland in Zusammenhang mit dem Angriff auf Israel gezählt. Es kann keinen Zweifel geben: „Nie wieder!“ ist jetzt. Jetzt ist die Zeit für konkrete Solidarität mit Jüdinnen und Juden in unserem Land. Für jeden von uns.
Wolfgang Krinninger
Chefredakteur