Gefühlt acht Wochen vor Neujahr tauchen sie in den Regalen der Süßwarenabteilungen auf: pinke Schweinchen, Glückswürfel, vierblätteriger Klee, Schornsteinfeger, Hufeisen und Marienkäfer – aus Marzipan, Persipan oder Schokolade. Und so will es scheinen, immer öfter auch chinesische Glückskekse, inklusiver ihrer nichts- und allessagenden Botschaften.
Daneben lässt sich in unseren Breiten seit einigen Jahren auch überraschendes Brauchtum rund um Neujahr beobachten. In den Auslagen vieler Wäschegeschäfte setzt man auf rote Dessous – ganz so wie in Italien. Nach dem Vorbild bekannter Orte an Nord- und Ostsee badet auch der Bayer mittlerweile das neue Jahr bei eisigen Wassertemperaturen an, von kulinarischen Aneignungen wie etwa dem in Spanien üblichen Zwölf-Trauben-Essen um Mitternacht ganz zu schweigen. Bewusst ausgespart bleiben hier Geschichten übers eher wenig traditionelle Neujahrsanschießen, geheimnisvolle Rauh- und Losnächte, Frau Percht, Räucherwerk und Energierituale. Sie sind seit einiger Zeit Thema in Frauenzeitschriften und Lifestylemagazinen, und zwar immer dann im Dezember, wenn es besonders gefühlvoll, versponnen und rätselhaft hergehen muss.
Tatsächlich spielte das Brauchtum an Neujahr im bäuerlich geprägten Altbayern bis ins 19. Jahrhundert eine nachrangige Rolle. Erst im Biedermeier (1815−1848) hielten Neujahrsbräuche, die eigentlich aus der städtischen Lebenswelt stammten, Einzug auf dem Land. Hausierer brachten Neujahrskarten mit Sprüchen und bislang unbekannten Glückssymbolen mit. Illustrierte Blätter wie die „Gartenlaube“, bebilderte Kalender und Almanache, die sie ebenfalls verkauften, zeigten den Menschen auf dem Land wie in der Stadt Silvester und Neujahr gefeiert wurde. Schnell erfreute sich das Bleigießen großer Beliebtheit, ähnelte es doch sehr dem Eierorakel, das man in der Nacht zu Neujahr alljährlich praktiziert hatte. Hühnereier wurden in eine Schüssel mit Wasser geschlagen. Aus der Form, wie Dotter und Eiweiß ineinander verliefen, interpretierte man die Zukunft. Kleine Tupfen oder Rübchen versprachen Reichtum, ein Sarg stand für den Tod.
Und doch zeigt ein Blick in die Vergangenheit, dass gerade der erste Tag im Jahr einiges an Besonderheiten zu bieten hat, unnachahmlich, bisweilen skurril, oft lebensnah, aber auch berührend. Das fängt mit dem Datum des Neujahrstages an und endet beim sogenannten Krageln, einer wahrlich sehr speziellen Form des Bajuwaren, sich mit roher körperlicher Gewalt ein gutes neues Jahr zu wünschen. Doch bleiben wir beim Neujahrstag, der über viele Jahrhunderte nicht am 1. Januar, sondern überall in Europa an Ostern oder später im Lenz gefeiert wurde. Immer wieder versuchte die Obrigkeit dies zu unterbinden, im frühen Mittelalter durch Kaiser Karl II., in der Neuzeit der spanische König Felipe II. für sein Weltreich genauso wie sein Habsburger Verwandter Mitte des 18. Jahrhunderts, als man mittels eines kaiserlichen Erlasses, den Florentinern und Pisanern endlich den 1. Januar als Neujahrstag aufzwingen wollte, was diese nicht scherte. Selbst die Anordnung von Papst Innozenz XII., der 1691 festlegte, dass für alle Katholiken am 1. Januar das neue Jahr begänne, wurde ignoriert, zu sehr schien man der alten Idee verhaftet, dass der Aufbruch ins Neue nur mit dem Frühling, mit dem Ausschlagen der Bäume, dem Wiedererstarken von Fauna und Flora zu tun haben kann. Geradezu salomonisch lösten allerdings die Engländer das Problem des einzig wahren Neujahrstags. Das Parlament legte den 1. Januar dafür fest, die anglikanische Staatskirche feierte den 1. Adventssonntag als ersten Tag des neuen Jahres und die Bürger blieben beim 25. März.
Dem ganzen war bereits 1310 der kirchliche Versuch vorausgegangen, Neujahr mit dem Weihnachtstag zu vereinen. Er schlug fehl, doch wünscht man sich bis heute in einem Atemzug ein gesegnetes Weihnachtsfest und Prosit Neujahr. Auch für Altötting ist das Zusammenlegen von Neujahr und Weihnachten im Mittelalter immer noch von großer, ja größter Bedeutung, birgt der Gnadenort doch in seiner Schatzkammer das wertvollste Neujahrsgeschenk überhaupt, das Goldene Rössl – ursprünglich im Jahre 1404 im Auftrag der französischen Königin Isabeau de Bavière, einer Wittelsbacherin, zum Jahreswechsel für ihren Gemahl König Karl VI. gefertigt.
Zu den historischen Besonderheiten eines bayerischen Neujahrstages gehört der legendäre Zopferlass der bayerischen Armee des noch jungen Königsreichs. In alten Garnisonsstädten heißt es bis heute, dass man 1806 am 1. Januar, nicht nur in der Nähe der Kasernen durch Zöpfe watete – vom Oberst abwärts mussten sich die Soldaten ihre langen Haare abschneiden lassen, sehr zur eigenen Freude, waren sie wegen der Länge, der Dicke und der Bindetechnik ihres Zopfes unglaublichen Schikanen ausgesetzt gewesen.
Ungewöhnliches aus alten Tagen, das bis heute Bestand hat, kann man für den Neujahrstag auch aus dem oberpfälzischen Cham berichten. Dort schenkt man sich an Neujahr ein besonders Gebildebrot, einen fünfzackigen Kamm aus Honiglebkuchen, mit Zuckerguss verziert. Der Lebzelten wird nur zwischen Weihnachten und Neujahr gebacken, seine Form gleicht dem Silberkamm im Stadtwappen. Früher erhielten die Dienstboten und Kinder, die zum Neujahrwünschen kamen, das seltsame Gebäck genauso wie Paten und Personen, die man sich gewogen machen wollte. Dass sich Liebende am ersten Tag des Jahres ein besonders schön gestaltetes Exemplar überreichten, versteht sich fast von selbst.
Überhaupt spielt die Liebe, spielen Sympathie und das Hoffen auf künftiges Glück eine große Rolle in der letzten und zugleich ersten Nacht des Jahres, in der man glaubt, in die Zukunft sehen zu können. Dazu brauchte es nur einen Apfel. Die Zahl der Kerne weissagte, ob eine Hochzeit ins Haus stand, die Apfelschale über Schulter und Kopf geworfen, zeigte aus welcher Richtung der Bräutigam kam. War keine Frucht zur Hand mussten Pantoffeln und Münzen als gleichwertige Wurfgeschosse herhalten. Bei aller Schwärmerei konnte es in dieser Nacht zwischenmenschlich auch recht konkret werden. Ein Stückchen Marzipan entschied darüber, wer mit Erlaubnis der Eltern als künftiger Schwiegersohn am Kammerfenster der Tochter erscheinen durfte. Heiratswillige Männer gingen, so die Erzählung, in kleinen Gruppen zum Haus eines Mädchens, das alle sympathisch fanden und baten um Einlass. Die Tochter des Hauses verteilte dann Gebäck, nur der Favorit bekam ein Stückchen Marzipan, das von ihr vor aller Augen in zwei Hälften gebrochen wurde. Für alle anderen Männer ist damit unverbrüchlich klar, wer der künftige Hochzeiter ist.
Es wird auch erzählt, dass man Buben und junge Männer am Neujahrstag ins Haus bitten soll, man versprach sich davon Glück und Segen fürs ganze Jahr. Alte Frauen hingegen ließ man nicht ein, fürchtete man doch dann um den Bestand der Ehe im kommenden Jahr. Überhaupt spielte das Öffnen des Hauses in der Neujahrsnacht eine große Rolle. Beim zwölften Stundenschlag, wenn die Glocken vom Kirchturm das neue Jahr ankündigten, riss man die Fenster, andernorts sogar die Haus- und Stalltüre auf, damit das alte Jahr verschwinden und das neue Jahr eintreten kann. Im Land zwischen Inn und Salzach war es bis zur Aufklärung üblich, auf dem Küchentisch einen Laib Brot, Salz und ein Messer bereitzulegen, damit es die guthaben, die in dieser Nacht aus dem Jenseits erscheinen.
Die leisen Momente der Unsicherheit und Angst, was die Zukunft bringen mag, treten völlig in den Hintergrund vor den lauten, manchmal unverschämt frechen und nach heutiger Anschauung auch übergriffigen Bräuchen, die angeblich das altbayerische Neujahr ausmachen sollen. Zu ihnen gehört das „Neujahr abgewinnen“, das in verschiedenen Ausprägungen mit regionalen Unterschieden überliefert ist. Kurz nach Mitternacht tauchen die ersten Neujahrsschreier, meist Kinder, Wandergesellen und Dorfarme, vor den Häusern auf, die sich einen Wettbewerb darin liefern, wer der erste ist und mit dem größten Wecken Weißbrot, dem fettesten Schmalzgebackenem und den meisten Kletzen nach Hause gehen kann. Der Inhalt der Neujahrssprüche, die mehr hinausgeplärrt als vorgetragen wurden, ähnelt sich von der Oberpfalz bis ins Oberland. Sind die Gratulanten mit der Anzahl der Schnäpse und dem erheischten Gut unzufrieden, kippt die Stimmung, die Verse werden frivol und persönlich unverschämt.
Für Menschen am Rande der dörflichen Gemeinschaft war der Neujahrstag oft für lange Zeit der einzige Tag im Winter, um sich satt essen zu können und mit einem, wenn auch bösen Augenzwinkern, gesellschaftliche Kritik äußern zu können. In der Gegend um Altötting muss es in der Zeit um Neujahr besonders viele Raufhandel gegeben haben. Es war hier üblich, in Gruppen von mehr als zwanzig Personen aufzutreten, die sich gegenseitig das Erbettelte wenig charmant abnahmen. Auch den Spendern begegnete man brutal. Dörrobstsäcke, die Bauern für die bettelnden Neujahrsaufsager vorbereitet hatten, wurden ihnen unter Androhung von Gewalt entrissen. Es hieß dann lapidar, man war „Kletzenbetteln“. Doch der ungewöhnlichste Brauch physischer Archaik an Neujahr war im Chiemgau daheim: Auch dort gab es ein Wetteifern, wer als erster seine Segenwünsche für das junge Jahr aussprechen durfte. Von einem Aussprechen konnte hier allerdings keineswegs mehr die Rede sein, denn der Wünschende schlich sich von hinten an, legte die Hände um den Hals seines Opfers, würgte es und raunte ihm zu „Was kriag i, wenn i dir Glück wünsch“.
Text: Maximiliane Heigl-Saalfrank