Liebe Leute, gebt acht! Denn auch heute besuchen sie uns, paffen ihre Zigarren aus verdorrten Zeitblumen und reiben sich zufrieden die Hände. Die grauen Herren von der Zeit-Spar-Kasse. Sie treiben uns an, damit wir immer schneller und effizienter werden. Dann lenken sie uns ab mit zahllosen Bildchen und Filmchen und rauben unsere Zeit – bis wir immer gestresster und genervter werden … Gott sei Dank aber stellt sich ihnen ein kleines Mädchen in den Weg. Sie können es erkennen an ihrem dunklen Lockenkopf, der noch nie einen Kamm gesehen hat, einem kunterbunt zusammengenähten Flickenrock und einer viel zu weiten Männerjacke. Es lebt in einem Amphitheater und verschenkt seine Zeit. Denn es weiß: „Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.“
Als Michael Ende am 1. September vor 50 Jahren das Märchen „Momo“ veröffentlichte, konnte er noch nicht ahnen wie erfolgreich es einmal sein würde. In 53 Sprachen ist es mittlerweile übersetzt und insgesamt mehr als 12,5 Millionen Mal verkauft worden. Es ist ein Märchen – für Kinder natürlich, aber vielleicht sogar noch mehr für Erwachsene, insbesondere für solche, die nur „in einer entzauberten Welt sogenannter Tatsachen“ existieren. Denn trotz seines Erfolgs scheinen die Menschen nicht viel gelernt zu haben aus der Geschichte und lassen sich ihre Zeit rauben …
Michael Endes Märchen „Momo“
Es gibt nur wenige Bücher, die zeitlos sind und auch noch Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen aktuell bleiben. „Momo“ gehört zweifellos dazu. An manchen Stellen scheint es auch christlich inspiriert zu sein. Etwa an der Stelle, an der es heißt, dass Momo all die Worte ihres Freundes Beppo Straßenkehrer „in ihrem Herzen bewahrte“ (vgl. Lk 2,19). Oder als sie den Agenten BLW/553/c der grauen Herren mit ihrer Frage, ob ihn denn niemand liebhabe, derart aus der Fassung bringt, dass dieser ihr alle Geheimnisse der Zeit-Spar-Kasse verrät. Oder an der Stelle, als sich Momo mit Meister Hora, dem Hüter der Zeit, unterhält, der ihr erklärt, dass es nicht der Tod ist, vor dem die Menschen Angst haben müssen: „Aber ich fürchte, sie wollen es gar nicht hören“, sagt Hora, denn die Menschen „wollen lieber denen glauben, die ihnen Angst machen“ – auch das ist ein „Rätsel“, das gerade in unserer Zeit sehr aktuell ist, wenn man an all die Verschwörungsmythen denkt oder an Politiker, die lieber populistische Sprüche klopfen anstatt an Lösungen zu arbeiten …
Im Märchen „Momo“ jedenfalls hat jeder Mensch seine eigene „Zeitblume“ und damit sein eigenes Leben und sein eigenes Herz. Einheitlich sind nur die grauen Herren. Das Leben aber ist vielfältig. Wer sich darin orientieren will, der braucht Zeit zum Zuhören, denn nur so kann er den Anderen auch verstehen …
Momo kann so gut zuhören wie niemand sonst – und das ist eine Eigenschaft, mit der sie nicht nur ihre Freunde glücklich macht, sondern die auch Papst Franziskus gefallen dürfte. Wenn es nach ihm geht, dann kann und sollte jeder das Zuhören üben. Das sagt er ziemlich oft, vor allem mit Blick auf die im Oktober startende Weltsynode. Zugegeben, das klingt ziemlich abstrakt, und manch einer fragt sich bestimmt, was das denn jetzt bitteschön konkret nutzen soll. Doch es könnte schon sein, dass der Papst genau den Nerv unserer Zeit trifft. Womöglich hören wir einander zu wenig zu – weil wir zu wenig Zeit dafür haben, weil es anstrengend ist, weil unsere Aufmerksamkeitsspanne auch aufgrund der modernen Medien immer weiter sinkt, … weil die Meinungen ja eh festgefahren sind. Franziskus sieht es genau andersherum: Meinungen und Weltbilder sind eben gerade deshalb derart festgefahren, weil die Leute einander nicht mehr zuhören. Hat er da womöglich recht?
Michael Glaß
Readkteur