
Eva Maria Welskop-Deffaa lenkt seit eineinhalb Jahren den deutschen Caritasverband. Im Interview erklärt die 64-jährige Volkswirtin, warum die Bischöfe gut beraten sind, die Caritas finanziell gut auszustatten, wo sie als Präsidentin Prioritäten setzt und wo die Bundesregierung unbedingt nachbessern muss in der Armutsbekämpfung.
Die kürzlich veröffentlichte Kirchenstatistik ist alarmierend: Die Austritte sind noch viel höher als erwartet. Welche Auswirkungen hat das auf die Arbeit der Caritas?
Welskop-Deffaa: Wir sind bedrückt und geschockt. An steigende Austrittszahlen hat man sich womöglich inzwischen gewöhnt, aber in diesem Ausmaß hat das keiner erwartet. Die Frage nach den Auswirkungen auf die Caritas ist nicht einfach zu beantworten. Für die Motivation der Mitarbeitenden stellt die Entwicklung in jedem Fall eine starke Irritation dar. Die Menschen in der Caritas, gerade die schon lange dabei sind, waren selbstverständlich daran gewöhnt, dass sie auf der Seite der Guten sind. Weil es offensichtlich toll ist, wenn man sich um arme Menschen kümmert oder Kranke pflegt. Jetzt plötzlich bekommen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ihren Nachbarn und Freunden die Frage gestellt: Warum arbeitest du eigentlich für diesen komischen Verein? Und darauf sind sie nicht vorbereitet. Sie stellen fest, dass Freunde aus der Kirche austreten, dass Verwandte gegangen sind. Und nicht wenige fragen sich auch selbst: „Bin ich hier eigentlich noch richtig?“ Nicht weil sie ihren Glauben verloren haben, sondern weil sie den Eindruck gewinnen, dass die Institution das nicht mehr verkörpert, was die Botschaft des Evangeliums ausmacht.
Über kurz oder lang werden die Austrittszahlen Auswirkungen auf die Kirchensteuer haben. Wie wappnet sich die Caritas für den Fall, dass die Finanzmittel knapper werden?
Welskop-Deffaa: Auch da haben wir große Sorgen. Die Finanzierung unserer Einrichtungen und Dienste speist sich ja aus mehreren Quellen. Eine sind öffentliche Gelder. Da wird jeder Euro mittlerweile mehrfach umgedreht. Und ob die Schuldnerberatung oder eine Straßensanierung finanziert wird, wird mit neuer Schärfe verhandelt. Wenn jetzt zusätzlich die Kirchenaustritte dazu führen, dass die Finanzierungsquelle aus Kirchensteuern versiegt, dann fragen sich unsere Kolleginnen und Kollegen natürlich schon: Werden wir morgen noch das Geld haben, das wir für unsere Arbeit brauchen – gerade für die Dienste an den Rändern, die Straffälligenhilfe etwa oder die Bahnhofsmission?
Die Kirche muss sich fragen: Was sind die Gründe für die Austritte? Distanz entsteht oft schleichend. Nur wo die Menschen spüren, dass die Kirche nahe bei den Bedrängten ist, dass Kirche Nächstenliebe in tätige Liebestätigkeit ummünzt, da entsteht Verbundenheit – ein Zuspruch, der Austritte vielleicht verhindern kann. Wäre ich ein Bischof, würde ich sagen: In einem enger werdenden Haushalt gebe ich der Caritas nicht weniger, sondern mehr. Erstens, weil es dringend notwendig ist, dass wir die Menschen in Not unterstützen, zweitens um so das samaritische Profil der Kirche unter Beweis zu stellen.
„Wir sind in der Caritas der Überzeugung, dass Klimaschutz in diesem Jahrzehnt herausragend wichtig ist und dass man die komplexen klimapolitischen Entscheidungen, die anstehen, verständlich kommunizieren muss. Es muss deutlich werden: Man hat auch die Menschen im Blick, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens unterwegs sind.”
Wie kommt die Kirche aus dieser Krise heraus?
Welskop-Deffaa: Ich sammle gute Erfahrungen, wo Bischöfe und Priester glaubwürdig nah den Sorgen der Menschen begegnen. Es gibt Bischöfe, die regelmäßig Dienst in der Suppenküche tun und bei denen man das Gefühl hat, das tun sie in der Nachfolge Jesu Christi, weil sie ihr Amt als Dienst verstehen. Das sind Zeugnisse, die die Menschen berühren.
Caritas, Diakonie und andere große Wohlfahrtsverbände pochen in einem gemeinsamen Brief an Kanzler Scholz darauf, die Kindergrundsicherung rasch umzusetzen. Warum ist sie so wichtig?
Welskop-Deffaa: Tatsächlich setzen wir uns als Caritas schon sehr lange dafür ein, dass die Transferleistungen für Kinder und Familien so gestaltet werden, dass sie diejenigen wirklich erreichen, für die sie gedacht sind. Es ist offensichtlich, dass die Regelwerke oft viel zu kompliziert sind, dass sie nicht verstanden werden, dass die Beantragung viel zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Wir hoffen, dass sich das mit der Kindergrundsicherung ändert. Wir verbinden allerdings mit der Kindergrundsicherung auch die Hoffnung, dass die Bemessung des kindlichen Existenzminimums verbessert wird. Und last, but not least: Neben den finanziellen Leistungen muss die soziale Infrastruktur gewährleistet sein, die z. B. als Kita mit verlässlichen Öffnungszeiten dafür sorgt, dass die Eltern vollzeitnah erwerbstätig sein können, auch wenn sie eine bezahlbare Wohnung nur weit entfernt vom Arbeitsplatz finden. Beides, finanzielle Leistungen und die Sicherung der sozialen Infrastruktur, bilden für uns das Paket, das wir gerne unter Überschriften wie Kindergrundsicherung oder Kinderchancensicherung sehen möchten. Aber die Gefahr, dass ein schlechter Kompromiss entsteht, ist in den vergangenen Wochen leider nochmals deutlich gewachsen.

Die Caritas fordert, das Heizungsgesetz sozial gerechter zu gestalten. Was muss anders werden?
Welskop-Deffaa: Wir sind in der Caritas der Überzeugung, dass Klimaschutz in diesem Jahrzehnt herausragend wichtig ist und dass man die komplexen klimapolitischen Entscheidungen, die anstehen, verständlich kommunizieren muss. Es muss deutlich werden: Man hat auch die Menschen im Blick, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens unterwegs sind. Deswegen kritisieren wir die Art und Weise, wie das Heizungsgesetz zustande gekommen ist. Ein anderes aktuelles Thema ist die Dienstwagenbesteuerung. Sie führt dazu, dass erhebliche Fehlanreize fortbestehen für den Kauf von viel zu großen Autos, die viel zu viel Sprit schlucken. Weil das Auto dann eh schon bezahlt ist, und man sich das ÖPNV-Ticket zusätzlich kaufen müsste, fährt man mit dem Auto zu oft und zu viel. Diese Fehlanreize hat eine Studie, die wir soeben mit herausgegeben haben, noch einmal sehr deutlich herausgearbeitet. Sie zeigt: Es profitieren vom Dienstwagenprivileg vor allem Gutverdiener im Automobil- und Bankensektor. Die Autos, mit denen unsere Pflegekräfte unterwegs sind, sind keine Dienst‑, sondern Firmenwagen, bei denen nur gelegentliche Heimfahrten abrechenbar sind. Wir sagen, es wäre eigentlich leicht, die pauschale Regelung bei den Dienstwagen zu reformieren. Man könnte anstelle der geltenden Pauschalregelung zum Beispiel eine CO2-bezogene Besteuerung einführen, mit der man gezielt diejenigen belohnen könnte, die kleine Pkw und E‑Autos fahren.
Wie geht die Caritas mit den Engpässen auf dem Arbeitsmarkt um. Bekommt sie noch genügend qualifiziertes Personal?
Welskop-Deffaa: Ich glaube, ganz entscheidend sind die Arbeitsbedingungen. Und damit die Arbeitsbedingungen gut bleiben, müssen wir aufpassen, dass die Lücken nicht zu groß werden. Eine löchrige Personaldecke erzeugt Druck für die Kolleginnen und Kollegen, die dann womöglich aus der sozialen Arbeit aussteigen. Ich bin sehr dankbar, dass hier in Bayern in der Pflege mit Springerpool-Lösungen ein ganz konkreter Schritt getan werden soll, um diesen Teufelskreis gezielt zu durchbrechen. Das wird nicht die durchschlagende Lösung sein, aber mit einem solchen Modell können die Pflegeeinrichtungen ihren Mitarbeitenden wieder zusagen: Am Wochenende kannst du Dich, wenn du frei hast, drauf verlassen, dass wir Dich nicht zum Dienst rufen. Wenn die Kollegin krank wird, dann greifen wir als erstes auf den Springerpool zurück, um dem Stammpersonal verlässlich Zeiten des Durchatmens zu ermöglichen. Bundesweit haben etliche Caritasverbände bereits eigene Springerpools, zum Teil schon seit mehreren Jahren. Wo es gelingt, gutes Personal mit solchen Instrumenten und einer wertschätzenden Arbeitskultur zu halten, kommen auch neue Kolleginnen und Kollegen meist gerne dazu.
Für die Caritas ist aber auch das Ehrenamt von zentraler Bedeutung. Was kann die Caritas tun, um die ehrenamtlich Tätigen zu stärken, was muss die Politik tun?
Welskop-Deffaa: Die Wohlfahrtsverbände erhalten Voraussetzungen für eine wirkungs- und vertrauensvolle Zusammenarbeit von beruflich und freiwillig Engagierten. Es entspricht unserem Selbstverständnis, eine ehrenamtsfreundliche Kultur zu schaffen. Viele Ehrenamtliche können nicht mehr zusichern, dass sie für die nächsten 20 Jahre immer dienstags um 15 Uhr für ihr Ehrenamt zur Verfügung stehen. Wir als Caritas können aber zusichern, dass wir die Bedarfe der Menschen in Not und die Möglichkeiten der freiwillig Engagierten zeitlich synchronisieren. Und das ist eine wichtige Zusage. Nicht zuletzt für die Absicherung dieser engagementförderlichen Strukturleistung, die wir erbringen, werben wir im Kontext der Engagementstrategie der Bundesregierung, die zum Jahreswechsel vorgestellt werden soll.
Ein wichtiges Thema für Sie ist die Digitale Transformation. Welche Auswirkungen sehen Sie da auf die Gesellschaft und speziell auf die Wohlfahrtsverbände zukommen?
Welskop-Deffaa: Diesem Thema habe ich mich als erstes angenommen als ich 2017 in den Vorstand des Deutschen Caritasverbandes kam. Wir haben jetzt das Digitale an die Stelle gehoben, an die es gehört. Wir haben deutlich gemacht: Unsere Leistungserbringung in der Caritas wird durch die digitale Transformation grundsätzlich herausgefordert – und das auf allen Ebenen. Das betrifft die Pflege ganz genauso wie die Gremien-Zusammenarbeit im Verband. Ein paar Beispiele: Wir haben mit passenden Apps viel mehr Möglichkeiten, die Arbeitszeiten zu individualisieren – und das führt am Ende dazu, dass sowohl die Kundenwünsche als auch die Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten besser berücksichtigt werden können. Wir haben in der stationären Pflege super spannende Projekte – etwa in Kronach in Bayern, aber auch in Darmstadt in Hessen –, wo man versucht, Pflege neu zu denken und die Einrichtungen so zu bauen, dass die Vorteile der Robotik optimal genutzt werden können. Wenn die Handtücher von der Wäschekammer automatisiert in das Zimmer der Bewohnerinnen gefahren werden sollen, dann muss es im Flur einen Bereich geben, wo ein Laufband geschützt fährt. Das können sie in einen Altbau nicht einfach hereinbasteln. Um Betten unter Umständen ferngesteuert zu schieben, ist vorauszusetzen, dass die räumlichen Gegebenheiten darauf ausgerichtet sind. Ich bin wirklich begeistert von der Zusammenarbeit zwischen den Caritasverbänden und Hochschulen. Auch der Aufbau eines integrierten Datenmanagements ist eine der Chancen der Digitalisierung, stellt aber einen subsidiär organisierten Verband wie den Deutschen Caritasverband auch vor Herausforderungen, die nicht alleine technischer Natur sind.
Aber Sie sehen schon mehr Chancen als Risiken in der Digitalisierung …
Welskop-Deffaa: Für die Caritas in jedem Fall. Die digitalen Kompetenzen allerdings sind sehr ungleich verteilt und bei nicht wenigen Meschen sehe ich, dass Gefahren der Ausbeutung zunehmen. Sorge macht mir zum Beispiel die Gaming-Szene. Da werden Kinder und Jugendlichen von schwarzen Schafen mit cleveren Methoden in Spielewelten gezielt hineingelockt. Und kaum sind sie in dieser Welt zuhause, dann wird’s richtig teuer. Da entstehen Sucht- und Verschuldungspotentiale, die wir mit großer Sorge betrachten.
Was ist Ihr wichtigstes Ziel als Präsidentin der Caritas?
Welskop-Deffaa: Die Caritasbewegung stand schon bei der Gründung des Verbands vor der Herausforderung, unter einem gemeinsamen Dach soziale Arbeit professionell, gut organisiert und mit gutem Standard zu leisten. Diese Herausforderung ist immer noch aktuell. Die digitale Transformation bringt tiefgreifende Veränderungen mit sich, ebenso die Erfahrung sich gegenseitig verstärkender Krisen – Pandemie, Flut, Krieg in der Ukraine, Inflation. Es zeigt sich, dass es innerhalb der Caritas eine grundsätzliche Neuverständigung braucht, um unsere Arbeit krisenresilient zu machen. Ich will dazu beitragen, dass die Caritas in diesen bewegten Zeiten zukunftsfähig und zukunftsmutig bleibt. Wenn ich das gemeinsam mit vielen Mitstreitern am Ende meiner Zeit als Präsidentin rückblickend geschafft haben sollte, dann bin ich froh.

Wolfgang Krinninger
Chefredakteur