Es ist kühl, der leichte Übergangsmantel tatsächlich etwas zu leicht für einen Spaziergang durch das Altötting der Bildhauer, Maler und Architekten. Es ist Ostersonntag, kurz vor neun Uhr morgens im Bachviertel, einer ruhigen, unspektakulären Ecke Altöttings. Doch heute darf dort kostenlos geparkt werden – ein Auto nach dem anderen, alle erkennbar ortsfremd, biegt in die schmale Kapuzinerstraße ein. Türenschlagen, Schimpftiraden. Es wird laut und hektisch. Kaum ausgestiegen diskutieren, nein lamentieren die Fahrer und ihre Beifahrer, wo es denn jetzt hinginge, man habe die Zeitumstellung übersehen, die Osterlämmer in den mitgebrachten Körben zittern heftig vor Erregung. Ob sie es noch unbeschadet zu einer der Speisenweihen schaffen werden?
Innerhalb weniger Minuten ist der eigentümliche Osterspuk vorbei. Die letzten feinen Nebelfetzen versuchen sich in der Straße zu heben und bleiben doch merkwürdig zäh in den kleinen Hinterhöfen und Einfahrten hängen. Nichts erinnert mehr an die Zeiten, als hier das Leben pulsierte, in den Werkstätten der Handwerker, in den kleinen Läden und besonders im Atelier der Bildhauerfamilie Girlich. Vater und Sohn, zwei Generationen in einer Werkstatt, beide prägend für die bildhauerische Gestaltung ihrer Heimatstadt, sind mittlerweile fast vergessen.
Wie anders dagegen verläuft das Leben von Vater Hans Joachim und Sohn Joachim Seitfudem. Sie sind in der Welt zuhause, stellen international aus, sie kennen den Kunstmarkt und er kennt sie. „Ich bin kein Künstler, ich bin ein einfacher Handwerker“, sagte Seitfudem der Ältere bescheiden bei unserer ersten Begegnung in der Altöttinger Stadtgalerie, wo er gerade ausstellt (siehe Ausgabe Nr. 15, S. 20). Ich schlug ihm vor, den Spuren Altöttinger Künstler bei einem Spaziergang durch die Stadt zu folgen. Darauf ging er sofort ein, war er, einer der bedeutendsten christlichen Holzbildhauer überhaupt, doch erst zum zweiten Mal in der Wallfahrtsstadt. „Der erste Besuch in Altötting war mit meinen Kriegern, ist schon länger her“, sagt er lachend im kehligen Tonfall der Ammergauer. Die Krieger, das sind die Mitglieder des Bad Kohlgruber Krieger- und Veteranenvereins, Seitfudem ist ihr Ehrenvorsitzender.
Gesehen hatte Hans Joachim Seitfudem in der ersten Ausstellungswoche noch nichts von Altötting. Im Souterrain der Stadtgalerie richtete er sich eine kleine Werkstatt ein: mit Lindenholzblöcken, seinen Schnitzmessern und Arbeitsstücken, ein Stück Daheim, das er bis zum Ostersonntagmorgen kaum verließ.
„Ich muss immer mit dem Holz arbeiten, egal wo ich bin“. Seine Ideen, sein Schaffensdrang sind unendlich wie auch seine spürbare Lust und Neugier, Menschen, ihren Lebensentwürfen und ihren Geschichten zu begegnen. Und zwar überall, selbst in seiner Altöttinger Unterkunft im Bachviertel: „Mich hat der Geruch der indischen Gewürze einfach in die Küche gelockt. Ich liebe indisches Essen, seit ich in Bangalore gearbeitet habe. Leider haben mich die indischen Gäste nicht verstanden. Ich hätte gerne zusammen mit ihnen gegessen und geratscht.“
Impressionen aus der Schau „Wie der Vater, so der Sohn – Werke aus der Familienwerkstatt Seitfudem“ in der Altöttinger Stadtgalerie I
Fotos: Roswitha Dorfner
Seine Offenheit, sein Geerdet-Sein ist es auch, was den kleinen quirligen Mann zu einem großen Pädagogen werden ließ. Sieben Kammersieger und Landessieger und vier Bundessieger habe er ausgebildet, erzählt er, als er vor der ehemaligen Werkstatt der Girlichs in der Kapuzinerstraße steht und fragt, ob sie Schüler unterrichtet hätten. Hans Joachim Seitfudem lässt gerne junge Menschen an seiner Kunst – er würde wohl eher das Wort Kunstfertigkeit bevorzugen – teilhaben; und zwar mit viel Geduld und großem Einfühlungsvermögen. „Du musst immer mit dem groben Messer anfangen, nimm den Vierer und treib ihn so von der Seite rein, das Männergesicht braucht die Kante“, erklärt er einem Altöttinger Schnitzeleven und führt gleich vor, was und wie er es meint. Er bleibt dabei behutsam und auf Augenhöhe mit dem Anfänger. Am liebsten würde ihm der Bildhauer gleich die passenden Messer und ein Werkstück zum Nacharbeiten nach Hause mitgeben. Seine Hausaufgabe solle er bis morgen erledigen, schärft er ihm ein. Der junge Mann nickt ehrfürchtig. Er wird in seiner Osternacht bis zum Sonntagmorgen einen kleinen Christuskopf mit Dornenkrone ausarbeiten.
Impressionen aus der Schau „Wie der Vater, so der Sohn – Werke aus der Familienwerkstatt Seitfudem“ in der Altöttinger Stadtgalerie II
Fotos: Roswitha Dorfner
Hans Joachim Seitfudem lässt unterdessen seine Holzbildhauerei ausnahmsweise etwas ruhen. Er besucht das Panorama und ist schier überwältigt von Größe, Konstruktion und der künstlerischen Ausführung. „Das zeige ich meinen Freunden von daheim. Das müssen sie sehen!“ Und dann nur wenige Meter weiter, in der Mechanischen Krippe, rührt den Mann aus Bad Kohlgrub sichtbar an, was seine Bildhauerkollegen aus Oberammergau vor beinahe 100 Jahren geschaffen haben. „Diese Tiere, die Präzision – das ist unglaublich. Das konnten nur zwei.“
Seitfudems Begeisterung ist grenzenlos, jede Ziege, jeder Vogel, jedes Pferd, jedes Kamel begutachtet er genau, Anatomie und Bewegung werden analysiert. Am liebsten würde er wohl eine der kleinen Tierplastiken in die Hand nehmen und über Fell und Gehörn streichen.
Doch die für den Künstler wichtigste Begegnung in Altötting findet auf dem alten Michaelifriedhof statt. Er gehe gerne auf Friedhöfe, weil man dort viel über die Menschen und ihre Orte erfahre. Ergriffen verharrt er vor dem Familiengrab der Girlichs. Der alles überragende Torso des „Ecce Homo“ hat Seitfudem still werden lassen. Die Darstellung des Dornengekrönten durchzieht sein Schaffen wie ein roter Faden seit seinem Meisterstück vor mehr als einem halben Jahrhundert. Seitfudem nimmt seinen blauen Filzhut ab. Er scheint ein Gebet zu sprechen, bekreuzigt sich und neigt seinen Kopf vor der Arbeit des Altöttinger Bildhauerkollegen.
Leise sagt er: „Das ist ganz groß. Der denkt, wie ich über Christus denke. Sein Christus ist so in sich gekehrt, so bei sich, so ruhig wie ich das noch nie gesehen habe. INRI, König der Juden, verhöhnt als Mensch, als Idee ewig.“
Man spürt förmlich, wie er den inneren Dialog mit Girlich sucht, den er zu seinem Bedauern nicht mehr kennenlernen kann. Die Begegnung der beiden Künstler – was hätte das für einen Moment in Altötting geben können.
Text: Maximiliane Heigl-Saalfrank
Die Schau „Wie der Vater, so der Sohn – Werke aus der Familienwerkstatt Seitfudem“ wird bis 12. Mai in der Altöttinger Stadtgalerie zu sehen sein. Sie ist in ein breites Rahmenprogramm eingebunden – am 6. und 7. April sind z. B. bei freiem Eintritt Spieletage im Forum angesetzt.