Soziales

Namenlos, aber nicht vergessen!

Redaktion am 23.10.2023

2023 10 23 pb alb friedhof der namenlosen1 Foto: Werner Friedenberger
Der Friedhof der Namenlosen in Wien hat etwas Mystisches. Denn hier erzählt jedes Grab seine ganz eigene Geschichte und zeugt von einem Schicksal, das in den Fluten der Donau ihr Ende fand. Das Grab des kleinen „Sepperl“, der in einer Schuhschachtel angeschwemmt wurde, wird von Besuchern mit Teddybären geschmückt.

Minuten, Stunden, Tage? Wie kurz das Leben des Buben gewesen sein mag, weiß man nicht. Vor über hundert Jahren spülte ihn, in einem Schuhkarton liegend, die Donau ans Ufer. Auf dem Friedhof der Namenlosen in Wien liegt sein Grab. Er wurde „Sepperl“ genannt, um nicht namenlos in die Ewigkeit einzugehen. Der Friedhof ist ein schaurig schöner Platz, wie es wohl wenige auf der Welt gibt.

Der eigen­wil­li­ge, fast ver­trau­te Umgang der Wie­ner mit dem Tod ist legen­där und wird durch Lie­der­ma­cher wie Georg Kreis­ler („Der Tod, das muss a Wie­ner sein“) lust­voll gepflegt. Eine regel­rech­te Fried­hofs­kul­tur offen­bart das fast sinn­li­che Ver­gnü­gen an der eige­nen Ver­gäng­lich­keit und zeigt, dass der Tod wahr­schein­lich nir­gend­wo bes­ser auf­ge­ho­ben ist als in Wien. 

Wie groß­zü­gig man in Öster­reichs Haupt­stadt mit dem Tod umgeht, bezeugt der Fried­hof der Namen­lo­sen. Wer hier­her kommt, hat eines der bewe­gends­ten, unge­wöhn­lichs­ten und ent­le­gens­ten Besuchs­zie­le in Wien erreicht. Er soll welt­weit der ein­zi­ge Toten­acker sein, der den Opfern eines Flus­ses gewid­met ist. Der Fried­hof der Namen­lo­sen ist nicht leicht zu fin­den. Nur ein paar Schil­der am Weges­rand wei­sen auf die­sen Ort im Alber­ner Hafen hin.

Hier habe ich schon als Kind mei­nem Groß­va­ter, der genau­so hieß wie ich, bei der Pfle­ge der Grä­ber gehol­fen“, erzählt Josef Fuchs (Pen­sio­när, gebo­ren 1960). Er und sei­ne Frau Rosit­ta küm­mern sich ehren­amt­lich um das Are­al, ins­ge­samt etwa 60 Stun­den im Monat. Den Rasen mähen, den Pflan­zen­wuchs ein­däm­men, die Hecken schnei­den, Laub weg­räu­men, Grab­stei­ne und Kreu­ze rei­ni­gen, Blu­men­spen­den arran­gie­ren, die Auf­er­ste­hungs­ka­pel­le säu­bern – es gibt immer etwas zu tun.

2023 10 23 pb alb friedhof der namenlosen2 Foto: Werner Friedenberger
Friedhof der Namenlosen in Wien: „Namenlos“ steht auf dem Grabkreuz dieses Verstorbenen – nur Gott kennt seinen Namen.

Dass er sich um den Fried­hof annimmt, liegt in der Fami­lie. Sein Groß­va­ter war es schließ­lich auch, der den klei­nen Sep­perl“ in einem ange­schwemm­ten Schuh­kar­ton fand und auf dem Fried­hof begrub. Seit die­ser Zeit – Gott sei Dank möch­te man sagen – küm­mert sich die Fami­lie Fuchs um den Fried­hof der Namenlosen.

Dass bei eini­gen Grä­bern ein Name steht, ist das Ver­dienst von Josef Fuchs (19061996), dem Groß­va­ter. Als Gemein­de­gen­darm von Albern konn­te er bei dem einen oder ande­ren Opfer im Nach­hin­ein die Iden­ti­tät klä­ren. Ihm und sei­ner lebens­lang ehren­amt­li­chen Arbeit ist es zu ver­dan­ken, dass die namen­lo­sen Toten, die die Donau einst frei­gab, nicht in Ver­ges­sen­heit gerie­ten. Noch einen Grund gibt es, war­um bei man­chen Grä­bern der Name bekannt ist: Es gab eine Zeit, da war es mit der Barm­her­zig­keit der katho­li­schen Kir­che nicht weit her – Men­schen, die frei­wil­lig aus dem Leben schie­den, durf­ten nicht in geweih­ter Erde bestat­tet wer­den und kamen auf die­sen Fried­hof. Bei den wirk­lich Namen­lo­sen“ hat man die Zuver­sicht: Nur Gott kennt ihren Namen. Ver­sinn­bild­licht wird das in der run­den Fried­hofs­ka­pel­le. Ein Wand­ge­mäl­de zeigt den Auf­er­stan­de­nen im Strah­len­kranz, der Umfas­sungs­bo­gen zitiert eine Stel­le aus der Bibel: Wer lebt und an mich glaubt, wird nicht ster­ben in Ewig­keit“ (Joh 11,26).

Der Fried­hof der Namen­lo­sen liegt im 11. Bezirk (Sim­me­ring), an den Donau­au­en im Hafen­ge­biet Albern. Das stim­mungs­vol­le klei­ne Grä­ber­feld ist die letz­te Ruhe­stät­te für Tote, die der Fluss frei­ge­ge­ben hat – Opfer von Unfäl­len und Ver­bre­chen. Dar­un­ter sind auch Men­schen, die frei­wil­lig aus dem Leben schie­den und aus Ver­zweif­lung in die Flu­ten der Donau gingen.

2023 10 23 pb alb friedhof der namenlosen3 Foto: Werner Friedenberger
Friedhof der Namenlosen in Wien: „Ertrunken durch fremde Hand“ steht bei diesem Kind, das im elften Lebensjahr starb.

Zwi­schen mäch­ti­gen Getrei­de­spei­chern, Silos und alten Lager­hal­len stre­cken heu­te Krä­ne ihre lan­gen Arme in den blau­en Herbst­him­mel; sie wer­den zum Be- und Ent­la­den von Donau­schif­fen gebraucht. Aus wirt­schaft­li­cher Sicht gese­hen schlägt hier der Puls des Lebens. Einen Stein­wurf davon ent­fernt weicht die geschäf­ti­ge Betrieb­sam­keit einer beschau­li­chen Ruhe. Auch hier geht es ums Leben, aller­dings um Ver­gan­ge­nes. Beim Fluss­ki­lo­me­ter 1.918, dort, wo der Donau­ka­nal in die Donau mün­det, war die letz­te Rei­se die­ser Men­schen zu Ende. Was­ser­stru­del fin­gen an die­ser Stel­le zwi­schen 1840 und 1940 neben Treib­holz 580 Was­ser­lei­chen ein. 

Unter hohen Bäu­men laden auf dem Fried­hof Bän­ke zur Rast und zum Nach­den­ken. Die See­le lebt wei­ter“, heißt es in einer in Stein gemei­ßel­ten Inschrift. Wel­che Schick­sa­le mögen hin­ter den Ver­zweif­lungs­ta­ten der Namen­lo­sen“ gestan­den haben? War­um kam es zum Äußers­ten: sich in die Donau zu stür­zen? Gab es nie­man­den, dem sie sich anver­trau­en konn­ten, der sie von ihrem Vor­ha­ben abzu­hal­ten ver­moch­te? Josef Fuchs kennt so man­ches Schick­sal der Ver­stor­be­nen: eine ledi­ge Dienst­magd, die sich umbrach­te, weil sie schwan­ger war. Ein jun­ger Mann, der sich hier am Grab sei­ner Mut­ter das Leben nahm. Drei Arbei­ter aus Deutsch­land, die beim Hafen­aus­bau Ende der 1930er-Jah­re zu Tode kamen. Eine Über­füh­rung in die Hei­mat war aus finan­zi­el­len Grün­den nicht möglich.

Die Toten braucht man nicht zu fürch­ten, nur die Lebenden.”

Josef Fuchs

Immer wie­der wur­de der älte­re Teil des Fried­hofs über­flu­tet, die Begra­be­nen waren ein zwei­tes Mal Opfer der Donau. Heu­te ist die­ser kaum mehr zu sehen, Bäu­me und Sträu­cher haben sich den Platz zurück­ge­holt. Auf dem jün­ge­ren Bereich ver­tei­len sich 102 Grä­ber; er ent­stand ab 1900 jen­seits des Schutz­dam­mes. Von vie­len weiß man weder Namen noch Todes­ur­sa­che. Namen­los“ steht daher auf man­chen Grä­bern, Unbe­kannt“ auf ande­ren. Die lie­be­voll gepfleg­ten Grab­stät­ten mit ihren schmie­de­ei­ser­nen Kreu­zen sind ein Memen­to mori all jener, denen der Fluss zum Ver­häng­nis wur­de. Besu­cher zün­den Ker­zen an, brin­gen Engel oder Ted­dy­bä­ren mit. Mit dem Bau des Alber­ner Hafens ver­än­der­te sich die Strö­mung der Donau. Nie­mand wird hier mehr ange­schwemmt. Der Fried­hof ist geblie­ben, ein­ge­säumt von Grün. Er ist im Besitz des Wie­ner Hafens, jeder­zeit frei zugäng­lich und steht unter Denkmalschutz. 

Nicht nur Aller­hei­li­gen und Aller­see­len wird der Opfer der Donau gedacht: Am Sonn­tag, 5. Novem­ber, um 14 Uhr ver­sam­meln sich Mit­glie­der des Fische­rei­ver­eins Albern, um ein von ihnen gebau­tes Floß, geschmückt mit Krän­zen, Blu­men und bren­nen­den Ker­zen, zu Was­ser zu las­sen. Auf dem Floß befin­det sich ein sym­bo­li­scher Grab­stein mit der Inschrift Den Opfern der Donau“ und der in den Spra­chen Deutsch, Tsche­chisch und Unga­risch ver­fass­ten Bit­te, das Floß, wenn es am Ufer hän­gen­blei­ben soll­te, ein­fach wei­ter zu sto­ßen. Mit einer Holz­zil­le brin­gen die Fischer das Floß in die Mit­te des Stroms, um es den Flu­ten zu über­ge­ben, zum Geden­ken an die anony­men Opfer der Donau. 

Josef Fuchs: Mir wur­de erzählt, dass das Floß bis ins Schwar­ze Meer geschwom­men sein soll.“ Und er erzählt wei­ter… Ein­mal hat eine Musik­band hier Auf­nah­men gemacht. Ich den­ke mir: Denen hier hät­te das eh gefal­len“ und deu­tet auf die Grä­ber. Die Toten hier star­ben vol­ler Kum­mer, durch Gewalt oder sie muss­ten qual­voll im Was­ser der Donau ertrin­ken.“ Ob er, der den Fried­hof der Namen­lo­sen schon seit sei­ner Kind­heit kennt, irgend etwas Ängst­li­ches oder Gespens­ti­sches damit ver­bin­det? Nein. Die Toten braucht man nicht zu fürch­ten, nur die Lebenden.“

Friedenberger_Werner

Werner Friedenberger

stellv. Chefredakteur

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