Eltern haben ein mulmiges Gefühl, wenn ihre erwachsen gewordenen Kinder eine längere Zeit im Ausland verbringen. Doch dann profitieren auch sie von den Abenteuern ihrer Sprösslinge, stellt unser Autor im aktuellen Editorial (Ausgabe 39-2024) fest. Zum Beispiel, wenn die Tochter das faszinierende Land Kanada entdecken darf ...
Die Bilder sind atemberaubend: Glasklare Seen, tiefblauer Himmel, gesattelte Pferde, schneebedeckte Berggipfel … Und schon die Namen der Orte klingen nach purem Abenteuer: Lake oft the Horns, Hill of Flowers, The Great Divide. Gespannt warten Familie, Freunde und Verwandte jede Woche auf neue Nachrichten und Fotos aus einer Welt, die wir nur aus Western kennen. – Unsere Tochter Katharina hat sich nach ihrer Ausbildung einen Traum erfüllt: Sie arbeitet drei Monate lang auf einer Ranch in Kanada.
Das Leben dort ist kein Zuckerschlecken. Gemeinsam mit anderen jungen Leuten und einigen erfahrenen Cowboys begleitet sie Touristen aus aller Welt, die auf Pferden die grandiose Landschaft in der Provinz Alberta erkunden. Die Ausritte gehen oft über mehrere Tage und führen tief hinein in die Rocky Mountains. Für die Wrangler – so werden dort die Frauen und Männer auch genannt, die sich um die Ranch und die Pferde kümmern – beginnt der Tag um sechs Uhr morgens mit dem Versorgen der Tiere und endet zwölf Stunden später. Es gibt nur einen freien Tag pro Woche. Dicke Schwielen und tiefe Schrammen „zierten“ nach den ersten Tagen Katharinas Hände.
Natürlich erging es meiner Frau und mir wie es allen Eltern ergeht, die ein Kind auf eine große Reise „schicken“: Freude und Hoffnung sind in den Tagen zuvor im ständigen Clinch mit Ängstlichkeit und bangem Erwarten. Wird sie gut aufgenommen? Kommt sie allein in der Fremde zurecht? Packt sie das Heimweh und kommt sie damit klar? Diese und einige andere Fragen mäandern durch den Kopf und werden stärker, je näher der Tag des Abflugs rückt. Nach der Ankunft wird dann jedes Wort aus der Ferne erst einmal auf die Goldwaage gelegt und nach Zwischentönen abgeklopft.
Inzwischen haben wir uns längst von ihrer Euphorie anstecken lassen. Wenn sie schreibt, wie sie in einer Woche 100 Meilen auf dem Pferderücken zurücklegt, ohne ein einziges Haus, Auto oder irgendein anderes Symbol unserer Zivilisation zu sehen, leben wir ihren Traum ein wenig mit, staunen mit ihr, freuen uns mit ihr.
Einmal mehr wird klar, wie wichtig es ist, manchmal aus- und aufzubrechen. Papst Franziskus fand dafür vor dem Weltjugendtag in Lissabon die perfekte Kurzformel: „Rise up! – Erhebt euch!“ Er appelliert immer wieder an die Jugend, es sich nicht im Alltag zu gemütlich zu machen, sondern sich voller Leidenschaft ins Leben zu stürzen: Eine Zeit voller Hoffnung und Träume sei die Jugend, „genährt von den schönen Dingen, die unser Leben bereichern“, so Franziskus.
Nach den atemberaubenden Bildern warte ich nun gespannt auf die Geschichten dazu. Aber eines scheint mir schon jetzt sicher: Katharina kehrt mit einem prall gefüllten Rucksack zurück – voller Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse, die ihr Leben reicher machen. Für immer.
Wolfgang Krinninger
Chefredakteur